Pester Lloyd - reggeli kiadás, 1930. január (77. évfolyam, 1-25. szám)

1930-01-01 / 1. szám

FESTER LLOYD neues System, ein Wunschbild, ein Idol, einen neuen Sinn. _ Unsere Haltlosigkeit greift zu allerlei Notbehel­fen: anstatt des diskreditierten „Zeitgeistes“ wurde das „Zeitgemäße“ zur großen Forderung, und seine Tyrannei ist noch geisttötender als die Herrschaft der evolutionistischen Idee. Was früher nur unsere Tracht getan hat: heute richtet sich unser Denken n«tch dem Alljährlich-Allermodernsten. Da kein übergreifendes System den Einzelerscheinungen un­seres Lebens Sinn verleiht, blieb uns als einziges Kriterium das „Heutige“, und an diesem Maßstabe messen wir alles, sogar das lebendige Ringen des Geistes. Jedes Jahr bildete seinen besonderen Stil von äußeren Lebenszonen bis in die tiefsten Schich­ten des Geistes hinein: so lebten wir im Zeichen des Jazzrhythmus, der Relativität, der neuen Sachlich­keit, der Körperkultur — und immer in dem der Ungeduld. Diese Ungeduld zeichnet uns das Bild des neuen Jahres vor. Wir möchten von ihm eine neue, große Bejahung, eine neue Grundlage unseres geistigen und sozialen Seins erhalten. Woher soll aber diese neue Grundlage kommen? In den letzten Jahren hatten wir viele Propheten: Propheten des Östlich-Asiati­schen, des Westlich-Amerikanischen und noch ande­rer Erdensphären. Ist etwas für die Zukunft von diesen Prophetien zu erwarten? Das Orientalisch- Magische, auf das man als auf eine neue, erlösende Lehre hinwies, schrumpfte zur harmlosen Spielerei anregungsbedürftiger Tischgesellschaften zusammen; das Amerikanisch-Moderne, das uns einige treffliche Symbole, Wolkenkratzer und Rekordgeist und Negermusik gab, befindet sich selbst in einer ge­waltigen Krise, sowohl im Wirtschaftlichen, als auch im Geistigen; die Leichtgläubigen, die von Rußland her das Licht erwarten, mögen selber an ihrem Götzenbilde irrewerden, so unbeständig und innerlich pngefestigt gebärdet es sich, — und endlich, die Gläubigen eines anderen neuen Lebensstils, des Faszistischen, müssen nach und nach einsehen, daß der Faszismus ebenfalls nur eine Frage und eine Phase des Suchens, aber keine Antwort und kein endgültiges Finden ist. Wie soll sich unser kleines Volk in dieser Welt­situation verhalten? Alles um uns her befindet sich im Zustande des Versuchs, der Unfertigkeit, der Krise. Wir wissen aber bestimmt — und ohne diesen Glauben könnten wir nicht leben —, daß die Zu­kunft irgendwelche neue Lösung, eine neue Ver­wirklichung in Bereitschaft hält. Für uns heißt es deshalb: warten mit offenen Augen. Für uns heißt es: uns keinem Versuch, keinem Experiment des Unfertigen hingeben, denn wir haben in unserer Armut unendlich viel zu verlieren. Für uns heißt es: alle unsere Lebenswerte in rauher Weltstunde hegen und pflegen, bis die Gefahr vorüberzieht, ps heißt: für alles Gute und Große, das die Welt uns bietet, uns seelisch offen halten, denn das Schwungrad der Zeit, wenn wir es aus dem Griff verlieren, schleu­dert uns ins . Nichts des, Zeitlosen fort. Wir müssen unseren Platz in der Gemeinschaft der Völker be­haupten; wir müssen all das Neue prüfen, das uns die lebendige Entwicklung entgegenbringt, — alles prüfen und das Beste behalten, damit wir jeder neuen Lage des Weltgeschehens gewachsen sind. und die Menschheit der Antike die ehernen Qua­dern. Alles, was je die Menschheit getan, was der ir­dische Geist vollbracht, ward eingefügt in diesen Turm und er stieg empor. Jede Nation steuerte bei, was sie schuf zu diesem Denkmal Europas, junge Völker drängten sich heran und lernten von den al­ten, gaben ihre unberührte Kraft zu der weisen Er­fahrung. Sie lernten voneinander die Kunstgriffe und daß jeder anders arbeitete, erhöhte nur den ge­meinsamen Eifer, denn wenn einer mehr tat, so war es Ansporn für den Nachbarn und die Zwistigkeiten, die manchmal unter den Nationen manche verwirr­ten, konnten keinen Einhalt tun an dem gemeinsa­men Werk. So wuchs der Turm, der neue Turin von Babel und nie stieg seine Spitze so hoch empor, als in un­serer Zeit. Nie waren die Nationen gegenseitig so sehr in ihren Geist eingedrungen, nie die Wissen­schaften ähnlich innig verknotet, nie der Handel so sehr verwoben zu einem wundervollen Netz und nie hatten die Menschen Europas ihre Heimat und die ganze Welt so sehr geliebt. Schon mußten sie in diesem Rausch der Einheit den Himmel fühlen, denn die Dichter aller Sprachen begannen gerade in den letzten Jahren in Hymnen die Schönheit des Seins und des Schaffens zu preisen und fühlten sich wie einst die Erbauer des mythischen Turms, schon selbst der Gott durch die Nähe dér Erfüllung. Das Denkmal stieg auf, alles Heilige der Menschheit war darin versammelt und Musik umflutete es wie ein Sturm. Aber der Gott über ihnen, der unsterblich ist wie die Menschheit selbst, sah erschreckt den Turm wieder. wachsen, den er schon einmal zerschlagen, und ihm bangte wiederum. Und wiederum wußte er, daß er nur stärker sein könnte als die Menschheit, wenn er wieder Zwietracht sendete und es voll­brachte, daß die Menschen einander nicht verstün­den. Wieder war er grausam, wieder sandte er Ver­wirrung unter sie, und nun, nach tausend und tau­send Jahren, ist dieser entsetzliche Augenblick mitten in unserem Leben erneuert. Über Nacht verstanden die Menschen einander nicht mehr, die friedlich mit­einander geschaffen, und weil sie sich nicht verstan­den, ergrimmten sie gegeneinander. Wieder warfen sie ihr Arbeitszeug weg und richteten cs als Waffe gegeneinander, die Gelehrten ihre Wissenschaft, die Techniker ihre Entdeckungen, die Dichter ihre Worte, die Priester ihre Glauben, alles wurde tödliche Waffe, was früher Handhabe war zu lebendigem Werk. Das ist unser furchtbarer Augenblick von heute. Der neue Turm von Babel, das große Denkmal der geistigen Einheit Europas, ist verfallen, die Werk­leute haben sich verlaufen. Noch stehen seine Zinnen, noch ragen seine unsichtbaren Quadern über der verwirrten Welt, aber ohne die gemeinsame Mühe, die erhaltende, fortdauernde, wird er stürzen in Ver­gessenheit. Wie jener andere in den Tagen der Mythe. Viele sind heute unter allen Völkern, die solches wünschen, die das, was ihre Nationen beige­tragen zum Gemeinsamen, am liebsten . auslösen möchten aus dem wundervollen Bau, unbesorgt darum, ob er in Brüche ginge, um allein mit der verminderten Kraft ihrer Volksgemeinschaft den Himmel und die Unendlichkeit zu erreichen. Aber andere sind noch zur Stelle, die meinen, cs könne niemals einem Volke, einer Nation, gelingen, zu er­reichen, was kaum die vereinte europäische Kraft in Jahrhunderten heroischer Gemeinsamkeit ver­mocht, Menschen, die gläubig glauben, daß dieses Denkmal sich hier vollenden müsse, in unserem Europa, wo es begbnlicn ward, und nicht vielleicht in fremden Erdteilen, in Amerika, in Asien. Noch ist die Stunde nicht reif zu gemeinsamer Tätigkeit, noch zu groß die Verwirrung, die Gptt in die Seelen sandte, und Jahre werden vielleicht vergehen, ehe die Brüder von einst wieder in friedlichem Wett­bewerb gegen die Unendlichkeit schaffen. Aber wir müssen doch wieder an den Bau zurück, jeder an die Stelle, wo er ihn verließ in dem Augenblick der Ver­wirrung. Vielleicht werden wir einander bei der Ar­beit Jahre nicht sehen, vielleicht kaum hören von­einander. Aber wenn wir nun schaffen, jeder an seiner Stelle, mit der alten Glut, so wird der Yurm wieder aufsteigen, und auf den Höhen werden sieb die Nationen wiederfmden. • 2 • „Krise der Sozialversicherung“? Von Staatssekretär Dr. EMERICH DRÉHR. Ich schreibe nicht für jene, die nur für politi­sche Pikanterien Interesse haben. Auch nicht für jene, die trotz genauer Kenntnis der Tatsachen alles in ein schiefes Licht rücken möchten, — sondern für die Kreise, die, den Bleistift in der Hand, Be­rechnungen anzustellen pflegen — über die sie in­teressierenden Änderungen im leben der Gemein­schaft: also für das ungarische Unternehmertum. „Die ungarische Sozialversicherung ist in eine krisenhafte Lage geraten“, so lautet ein neuer wich­tigtuerischer Gemeinplatz. Er gibt sich den An­schein, die nüchterne Feststellung einer Tatsache zu sein, ist aber lediglich ein Beweis völliger Desorien­tierung. Es soll zunächst festgestellt werden, daß sich nicht die ungarische Sozialversicherung in einer Krise befindet, sondern daß die Krankheitsversiche­rung gegen Schwierigkeiten anzukämpfen hat, doch nicht nur in Ungarn allein, sondern überall in Europa, weil in der Gefolgschaft des Krieges die Struktur der Bevölkerung eine Änderung erfahren hat, weil die produktiven Altersklassen weniger dicht geworden sind, weil infolge der Kriegs- und nach­kriegszeitlichen Ernährungskrise im physischen Kräftezustand der Völker eine Verschlechterung ein­getreten ist und weil als Folgeerscheinung der euro­päischen Wirtschaftskrise die Leistungen der Sozial­versicherungen massenhaft in Anspruch genommen werden durch die ohne Arbeitslosenunterstützung dastehenden erwerbslosen Privatangestellten und Arbeiter, die mjt auf den Krieg oder auf nachkriegs­­zeilliche Entbehrungen, zurückfiihrbarc Krankheiten behaftet sind und die unter diesem Titel Anspruch auf Krankengeld erheben, sobald ihnen ihre Existenzbasis,, die Arbeitsgelegenheit, entzogen wird. Allein zu einer Krise der ungarischen Sozialver­sicherung, von der nur unorientierte Wichtigtuer sprechen können, die sich nicht klar darüber sind, daß von einer solchen in der Alters- und Invaliden­versicherung, in der Unfallversicherung und in den Bruderladen schon darum keine Rede sein kann, weil der mathematische Aufbau dieser Versiche­rungszweige den Eintritt einer krisenhaften Lage direkt ausschließt, — konnten und können auch diese Erscheinungen nicht führen. Eine finanzielle Krise könnte allein in der Krankheitsver­sicherung eintreten, in der der Beitragsschlüssel nicht das Produkt aktueller Berechnungen ist, sondern auf Ausgleichung der Produktions- und deg sozialen Interessen beruht. Daß es die Krankheitsversicherungsanstalten nicht leicht haben, weiß jeder ernste Sozialpolitiker: es wäre geradezu ein Wunder, wenn in einer Zeit, da von Hamburg bis Constanza jede einschlägige Insti­tution gegen Schwierigkeiten anzukämpfen hat. eben nur die ungarische Krankheitsversicherung, die ihren Klienten die größten Leistungen bietet, sich einer günstigen Lage, erfreuen würde. Man vergesse nicht, daß der „ungarische Feudalismus“ nach der Gegenrevolution in der Krankheitsversicherung alle Leistungen zugunsten der. Arbeiterschaft aufrecht­­erhielt, die die Prölefarierdiktatur im Jahre 1919 ins Leben gerufen hatte. Aber darüber hinaus bietet die ungarische Krankheitsversicherung heute mehr, als die Proletarierdiktatur für die Arbeiterschaft sti­­puliert hatte. Während nämlich z. B. vor der im Jahre 1919 erfolgten Verstaatlichung der Sozialver­sicherung auf ein Anstaltsbett 2031 Kassenmitglieder entfielen, entfallen 1929 — dank der während der letzten drei Jahre im Bereiche der Sozialversiche­rung durchgeführten Investitionspolitik, die 12 Mil­lionen Pengő in Anspruch genommen hat — auf ein Anstältsbett nur mehr 53? Mitglieder. Dér gleichen Erscheinung steht man gegenüber, wenn man die Reform des ärztlichen Dienstes in Betracht zieht. Im Jahre 1925 hatte ein Anstaltsarzt 375 Versicherte zu versorgen, heute entfallen auf einen Arzt nur noch 307 Mitglieder. Im Jahre 1910 haben die Kran­kenkassen auf dem damaligen Staatsgebiete 9,300.000 Pengő an Krankengeldern ausgezahlt, wovon auf je ein Mitglied 29 Pengő entfielen; im Jahre 1928 be­trug das ausgezahlte Krankengeld 17,700.000 Pengő, im laufenden Jahre beträgt es etwa 21,000.000 Pengő, die Kopfquote beträgt mithin dermalen 27.80 Pengő. Die Ausgaben für Krankengelder haben sich in einem einzigen Jahre um annähernd 20 Prozent er­höht, was seine Ursachen darin hat, daß die Krank­heitsversicherung auch die latente Last der noch fehlenden Versicherung für den Fall der Erwerbs­losigkeit mitzuschleppen hat, da Arbeiter, die von der Lungenschwindsucht heimgesucht sind und sich infolge der häufigen Arbeitslosigkeit physisch zu­rückentwickeln, nur allzu leicht den Rechtstitel zum Bezug des Krankengeldes finden. Das ist mit eine Erklärung dafür, daß sich die Summe der im Jahre 1929 durch die KrankheitsVersicherung flüssig ge­machten Unterstützungen auf 42 Millionen Pengő er­höhte, während sie 1928 43.6 Millionen, 1927 nur 39 Millionen Pengő betrug. Die auf einen Versicherten entfallenden Kosten haben sich also in den beiden letzten Jahren von 50.07 auf 61.05 Pengő, mithin um 17-4 Prozent erhöht. Das will besagen, daß sich die Krankheitsversicherung, die ihre Totalausgaben für das laufende Jahr mit 46.7 Millionen Pengő veranschlagt und für Unterstützungen allein 47 Mil­lionen Pengő verausgabt hat, auch dann im Defizit befände, wenn ihre Administration keinen Heller kostete und wenn die Arbeitgeber die ganzen 100 Prozent der für sie vorgeschriebenen Beiträge ablieferten. Entstanden aber ist diese' Lage dadurch, daß sich in den letzten drei Jahren die Summe der ausgezahlten Krankengelder um 33 Prozent, die ärzt­lichen Kosten um 70 Prozent und die Medizinäl­­yersorgung um 52 Prozent erhöht haben, während in der gleichen Zeit die Beitragsvorschreibung um 11.6 Prozent zurückgegangen ist. Die Ursachen des Defizits liegen also im rapiden Ansteigen der liqui­dierten Unterstützungen und im gleichzeitigen Rück­gang der Beitragseinkünfte. Erfinderische Ratgeber würden in einem solchen Falle empfehlen, daß wir entweder die Leistungen vermindern oder aber den Beitragsschlüssel erhöhen sollen. Auf diese Weise wollen wir jedoch den gordischen Knoten unter keinen Umständen durchschneiden. Wer würde auch die Verantwortung für die Verminderung der für die Arbeiterschaft gesetzlich zugesicherten, sozialen Vor­teile auf sich nehmen, und wer würde sich der Selbsttäuschung hingeben, daß es bei den gegebenen Verhältnissen unserer Produktion möglich ist, den Versicherungsbeitrag zu erhöhen? Das Ministerium für Volkswohlfahrt und Arbeitswesen hat unter der Mittwoch, J. Januar 1930 Ehebruch als Ehekitt. Die Polygamie im modernen Roman. Seitdem es Epen gibt, seitdem die Novelle und der Roman im Schrifttum auftauchten, wird nicht nur die einfache, sondern auch die Doppelliebe, nicht nur die Polygynie, sondern auch die Polyandrie dargestellt, aber niemals wurde dieses zwei-, drei­­und mehrgestrichene Thema häufiger variiert, als in der Gegenwart. Der erotische Zwiespalt in der Natur des Grafen von Gleichen erscheint in allen erdenk­lichen Abarten im zeitgenössischen Schrifttum, aller­dings mit einer neuen Nuance; denn wenn früher der zwischen zwei Frauen gestellte Mann an seinem seelischen Konflikt schwer, litt und aus der Ver­strickung der zwiefach geschlungenen Diebesbande sich losreißen wollte, scheint er jetzt der Devise: „Doppelt hält besser“ huldigend, die Liebe zu seiner angetrauten Gattin durch die Liebe zu einer Ge­liebten verstärken, erhöhen, verbessern, gleichsam den Ehebruch als Ehekitt benützen zu wollen. Es würde zu weit führen, die Wandlungen des Problems der Vielweiberei oder Vielmännerei auf den weiten Gebieten der Literatur zu erörtern, oder der Vorliebe für solche Vielliebeleien nachzu­forschen, die sich ebenso im französischen, engli­schen, italienischen, ungarischen und besonders im deutschen Roman zeigen, doch sollen zwei Dich­tungen und zwei Dichter als Beispiele für die Neu­gestaltung des Themas herangezogen werden. Ger­­hart HauptmaniMfe veröffentlicht jetzt sein „Buch der Leidenschan“ und Herbert Eulenberg seinen Roman: „Zwischen zwei Männern“, ein Gegenstück seines auch in unserem Blatt er­schienenen erzählenden Werkes: „Zwischen zwei Frauen“. Immer- suchte die Klatsch- und Tratsch­­sücht einer gewissen Lesergemeine aus solchen erotisch abwegigen Romanen Erlebnisse des Verfassers herauszufischen, denn weit weniger das Werk als d^r Dichter selbst weckten das Interesse reichen Schnüfflerschar. Ist doch in nge der Glaube noch immer verbrei­­r, Dichter und Künstler überhaupt

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