Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 7. (1965)
1965 / 3-4. szám - Bibliographia - Hankiss Elemér: Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht
liibliographia Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht Neuwied am Rhein, 1962. Leuchterhand, S. 285 Leo Kofler gehört nicht zu den Kritikern, die der Meinung sind, daß man vermöge Erwähnens mancher treffenden aber herkömmlichen Argumente und Attribute (wie z. B. »Irrationalismus«, »Zynismus«, »Dekadenz«, »Nihilismus«) die verblüffenden, dennoch für viele durchaus anziehenden Formen, Werke, Geist der extremen, avantgardistischen Richtungen bürgerlicher Literatur von sich zu verjagen vermag. Er weiht ein ganzes Buch der Klarstellung dieses Fragenkomplexes, und macht sich daran, die sozialen Wurzeln, die sozialen und moralischen Folgen der avantgardistischen Literatur mittels systematischer, vertiefter Arbeit aufzuschließen. Seine Arbeit ist umso beachtenswerter, indem er — im Gegensatz zu den meisten Kritikern — den verfügbaren Stoff nicht mit den Augen des Literaturhistorikers oder des Ästheten, sondern mit denen des Soziologen untersucht. Einer Anzahl von aufsehenerregenden Studien und Büchern dezidiert soziologischen Inhaltes folgte diese als erste Arbeit literarischen, literaturhistorischen Gegenstandes. Das Zauberwort, welches zur Lösung aller literarischen und ideologischen Bestreben des Bürgertums vom XX. Jahrhundert dient, heißt bei ihm »Entfremdung«. Es ist jene, auch von den marxistischen Denkern oft erwähnte Entfremdung (die Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinen Gefährten, seiner Arbeit, seinen Zielsetzungen, der menschlichen Totalität), die Entfremdung, welche mit der Entfaltung der Klassengesellschaften begann, und in der kapitalistischimperialistischen Epoche ihren Höhepunkt erreichte. Nach Kofler erscheint die Entfremdung als gesellschaftlich-soziologischer Faktor auf zweifache Weise im Bewußtsein des Bürgertums vom XX. Jahrhundert. In manchen Momenten hat der Mensch das Gefühl, daß er dem von seinem Willen bereits völlig unabhängigen und unabsehbaren wirtschaftlich -gesellschaftlichen Mechanismus ausgeliefert sei, daß er seinen Menschen-Charakter, seine Autonomie verloren hat, daß er zum machtlosen Werkzeug unbekannter, äußerer Kräfte ward. Im nächsten Moment reißt er sich aber — eine krampfhafte und illusorische Reaktion! — von diesen äußeren Kräften, von der auswertigen Welt los; er flüchtet in sich selbst, in die ’innere’ Welt und fühlt sich, vermeint sich in jener inneren Welt der Gefühle, Sinne, Gedanken, überschwenglichen Assoziationen frei und allmächtig. Die A van tgarde -Litera tur ist eine extreme, bis zum Äußersten gespannte Darstellung jener totalen Entfremdung und ihrer zwei entstellten Reaktionen. Die Helden von Kafka, Joyce, Beckett erscheinen vor uns als wie auf Draht gezogene, leblose Puppen, oder im Gegenteil: als wie in einer phantastischen, fiktiven und irrealen Welt ungebunden herumflatternde Dämonen. Diese extreme, übertriebene Darstellung der Entfremdung ist für Kofler zugleich Verdienst und Schuld des Avantgardismus. Verdienst, denn es beleuchtet die Tatsache und Not der Entfremdung schärfer als der klassische Realismus des XIX. Jahrhunderts; zugleich aber seine Schuld, denn er absolutisiert einerseits diese Krisis zur unzeitlichen und ewigen Eigenschaft des menschlichen Geschicks, anstatt sie einer gegebenen Epoche der Geschichte und einer gesellschaftlichen Lage anzuknüpfen, — andererseits stellt er aber den Zustand der Entfremdung einfach dar, ohne daß er einen Ausweg suchend gegen sie kämpfte und zum Kampf mobilisierte. Diese Diagnose klingt überzeugend, wie auch die Kritik, dennoch sind wir mit ihnen nicht völlig einverstanden. Wir haben den Eindruck, daß Kofler den Avantgardismus in einer Hinsicht verurteilt, in welcher er schuldlos ist; während er die Punkte übersieht, wo er alle Kräfte einzusetzen hätte, um den Angriff der gefährlichen Strömung abzuwehren. Von den vielen, zumeist stichhaltigen Argumenten wollen wir bloß zweie bestreiten, allerdings die zwei wesentlichsten. Das eine ist die Anklage, daß die Avantgarde-Literatur die Entfremdung bloß darstellt, doch gegen sie nicht kämpft, und vertieft dadurch die ohnedies schwere Krise. Das ist kurz gesagt ein Irrtum. Es ist meist typisch für sie — und es kann zur Entlastung angeführt werden —, daß die Avantgarde-Literatur des XX. Jahrhunderts bis aufs Blut gegen die Krisis, die Unmenschlichkeit, Verwirrung, Hoffnungslosigkeit des Lebens kämpft. Es soll uns nicht irreführen, daß wir die Lösung auf von den ihrigen abweichenden Wegen zu finden trachten: nein, es ist