Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 7. (1965)

1965 / 3-4. szám - Bibliographia - Hankiss Elemér: Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht

Bibliographici nicht zu leugnen, daß die Expressionisten der zwanziger Jahre, die Surrealisten, die Existentialisten der Nachkriegszeit, Jessner, Tairow, Majakowskij, Camus, Io­nesco, Max Frisch, Dürrenmatt und con­­sortes einen Ausweg in ihrer eigenen Weise suchten, und es entzückt sie das Verder­ben, die Auflösung bei weitem nicht. Selbst der so oft erwähnte und getadelte Beckett setzt seine Helden nicht deshalb in die Müllbehälter, daß er seine bürgerlichen Zuhörer über ihrer eigenen, angenehmen Lage überzeugt, sondern um sie der Not ihrer Lage und ihrer Welt bewußt werden zu lassen. Es verheeren die Lebenslust des Men­schen, seinen schöpfenden und schaffen­den Schwung die Werke der Avantgar­disten mit großen Visionen, grotesker Ironie flimmernd, alles bis zur Absurdität, zur Explosion, zur Tragödie steigernd — nicht; sie zwingen sogar den Menschen, dadurch, daß sie ihn die Schauderhaftigkeit der gegebenen gesellschaftlichen Existenz be­wußt werden lassen, immerfort zur Ab­rechnung; zumindest erfüllen sie den Menschen mit einer tiefen Nostalgie nach Wahrheit (Dürrenmatt: Unfall), nach menschlicher Autonomie (Camus: Cali­gula), nach Liebe (Williams: Tramway der Sehnsucht), nach bürgerlicher Integ­rität (Frisch: Biedermann), der Menschen­würde (Ionesco: Das Nashorn), nach Ehre und menschlicher Vollentfaltung (Miller: Tod des Agenten) — und verleihen ihm dadurch Kraft, Schwung, wenn auch allerdings zwecklos Verpulvernde Kraft und in das Nicht hinauslaufender Schwung ihm geschenkt werden. Nein, es reiben nicht diese Werke die schaffende Lust und Kraft des Menschen, sondern jene in zehn- und hunderttausend Exemplaren auf den Markt geschleuderte, meistens überhaupt nicht avantgardistische, sondern mit geradezu realistischen, besser gesagt: pseudorealistischen Mitteln arbeitende Mas­senliteratur, welche den Verfall der bürgerli­chen Gesellschaft von Heute mit minuziöser Genauigkeit beschreibt, und indem sie weder Kraft, noch Lust und Anspruch auf Protest, zur Lösung, zur Neugeburt hat, also be­spritzt er nach und nach alles, alle Punkte, Momente, Ideale des Lebens und der Gesell­schaft mit dem Zynismus, der Aussichtslosig­keit, mit dem würgenden Pessimismus und der plumpen Indolenz der Weltanschauung einer einzigen Gesellschaftsschicht, des Großbürgertums. Für diese Literatur gilt die Kritik Koflers ausschließlich: sie ist tatsächlich nichts als Naturalismus im ärgsten Sinne des Wortes, da sie die Wirk­lichkeit, respektive, einen Bruchteil, die Oberfläche der Wirklichkeit, ohne Ab­sicht des Verständnisses und des Änderns abbildet. Mit jenen Werken hat aber die Krem der Avantgarde-Literatur nicht viel zu schaffen, und über ihrer Existenz kann von ihr keine Rechenschaft gefor­dert werden; wie beispielsweise auch Zola nicht verantwortlich gemacht wer­den kann für die naturalistischen Kom­merzromane, die im Leser keine Empörung, sondern Entzücken zu erregen beabsichtig­ten, dadurch, daß sie die moralische, insbesondere aber die sexuelle Lieder­lichkeit des Bürgertums aufschlossen. Wir sind auch mit einer zweiten, grund­legenden These der Kritik Koflers nicht einverstanden. Er macht nämlich allen Avantgardisten — mit der alleinstehenden Ausnahme Brechts — den Vorwurf, daß aus ihren Werken die sozialen Momente, die sozialen Zusammenhänge und Ursachen fehlen. Tatsächlich steht die Betrachtungs­weise Brechts näher zu der unsrigen, als die der anderen, und er malt uns in Mutter Courage und in Furcht und Elend des Dritten Reiches ein großes, histo­risch-gesellschaftliches Panorama. Den­noch finden sich soviel soziale Momente, wie z. B. in der Dreigroschenoper, dut­zendweise in den Werken bürgerlicher Auto­ren; man denke nur an Die Pest (Camus), Die Nacht der Furcht (Salacrou), an den Tod des Agenten (Miller), Or feus’ Abstieg (Williams), Und die Toten singen wieder (Frisch) usw. Man hat den Eindruck, daß Kofler seine Konklusion auf Grund von nicht mehr als zwei-drei Werken zog; je­denfalls spricht der Umstand dafür, daß er außer Kafka, Joyce und Beckett keines weiteren Autors Werk gründlich analysiert, und von den bekannten Avantgardisten sonst keiner mehr genannt, geschweige analysiert wird. Darin hat er aber doch recht, daß aus den modernen Werken von Avantgardisten irgendein ’soziales’ Moment fehlt. Es feh­len aber nicht, oder nicht an erster Stelle die Wurzel und Ursachen, wie er es an­nimmt, sondern die sozialen Ziele der Ak­tion und im allgemeinen: des Lebens. Sie fehlen, denn die bürgerliche Lite­ratur unserer Tage, und ganz allgemein: das Bürgertum unserer Tage sucht die Lösung der menschlichen Probleme — die jahrhundertealte Tradition verleugnend — nicht mehr auf der Ebene der sozialen Aktion, des sozialen Fortschrittes. Es sucht nicht mehr dort, da es empfindet, daß ihm alles, was der gesellschaftlich­wirtschaftliche Fortschritt überhaupt zu verleihen vermag, bereits gegeben ward. Reichtum, Macht, nahezu unbeschränkte Lebens- und Handlungsfreiheit. Der wei­tere Fortschritt vermehrt bloß das ohne­

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