Maurer Dóra Munkák (Ernst Múzeum, Budapest, 1984)

Dieter Ronte: Kunst und/oder Wissenschaft „Man hat die Wissenschaft als ein Schiff bezeichnet, das allmählich umgebaut wird, während man es gleichzeitig schwimmfähig hält: ein Planke-um-Planke-Verfahren, bei dem in jedem einzelnen Zeitpunkt der grösste Teil des Fahrzeugkörpers intakt bleibt. Die Kunstgemeinschaft tendiert dazu, sich so zu verhalten, als sässe sie in einem gleichartigen Schiff, doch der Umbau geht nicht so geordnet von statten. Die Passagiere auf dem Oberdeck lassen sich irritieren, weil die Arbeiten sie wach halten. Die Arbeiter streiten sich darüber, was man tun solle und hämmern gelegentlich auf einander ein. Andere Stimmen klagen darüber an, dass die Ergebnisse anfangen bald nicht mehr als Schiff erkennbar zu sein." (Victor Bürgin, 1973.) Wenn das Bild des Amerikaners Bürgin richtig ist, so müssen wir Dóra Maurer unbedingt auf dem Oberdeck einordnen. Unbekümmert geht sie konsekvent ihren Weg, lässt sich nicht von modischen Attitüden streifen. Akzeptieren wir aber das Bild des Schiffes nicht, sondern vergleichen wir die Kunstgemeinschaft mit einer Regatta aus vielen Schiffen, so ist Dóra Maurer in ihrer Kunst ein logisch konstruiertes und dennoch phantasievolles, schwimmfähiges Produkt, ein Schiff auf der Donau, dennoch für Ozeanfahrten ausgerüstet. Immer hat sich der Mensch selbst zum Massstab genommen. Seine Artefakte sind auf ihn ausgerichtet, seine Produkte sollen ihm dienen. Dennoch kennen wir viele Beispiele, wo der Mensch nicht mehr die Kontrolle über sich hat, wo er übermütig wird, sich selbst verlässt, ich meine das Syndrom des Ikarus. Bildende Künstler, die dem Humánum besonders nachspüren, setzen ihrerseits sich selbst immer wieder neue Massstäbe, die sie aus sich selbst beziehen. Diese Massstäbe können gestisch und expressiv sein, abstrakt und gegenständlich, sie können aber auch auf Rationalität fussen in dem Wissen, dass das Rationale dort besonders interessant ist, wo es umspringt in das Irrationale, wo die Mathematik, die Chemie, die Physik, die Philosophie sich jenen Grenzbereichen nähert, in denen das Bekannte umspringt in das Unbekannte, in jene Bereiche, in denen Zukunft verankert ist. Diese fernen Welten werden nur erreicht, wenn der Mensch bereit ist nach bestimmten Prinzipien vorzugehen. Diese Prinzipien aber muss z.B. der Künstler sich selbst erarbeiten, er muss sich einem selbst gewählten Prinzip stellen. Dóra Maurer tut dies. Hierin liegt eine Konsequenz ihres Schaffens, die nur wenige Künstler der hektischen Kunstszene heute verfolgen. Dóra Maurers Prinzip ist nicht durch Logik die Veränderung unserer Welt herbeizuführen, wobei Veränderung auch Destruktion oder Umformung der Oberfläche des Sichtbaren beinhalten kann, sondern Erkennbarmachung bereits vorhandener Strukturen, Visualisierung des Gegebenen, weil die Veränderung eine geistige, moralische sein muss, jene Evolution, die hinterderOberfläche liegt. Wenn Einstein gesagt hat: „Die Formel ist falsch, denn sie ist nicht schön", so ist dies die Umkehrung dessen, was Dóra Maurer bewirken will. Die Qualität ihrer Formen-Prinzipien liegt darin, den Kanon der klassischen Schönheit zu Gunsten einer neuen, phantasiegetränkten Erlebbarkeit zu modulieren. Dadurch erreicht sie eine eigene Schönheit, die nicht zur Formel, zum Prinzip parallel läuft, sondern ihnen immanent verhaftet ist. Dóra Maurers Bildsprache ist eine gesetzte, eine rational betonte, die sich dennoch der gedanklichen Umwelt unmittelbar einverschreibt,die wir deshalb nicht abstrakt, sondern konkret nennen müssen. Dóra Maurer setzt ein Erbe der Renaissance fort, das von Leonardo da Vinci. Wie dem grossen Italiener, geht es ihr um visuelle Forschung. Deshalb sind auch die Sätze von Victor Bürgin nicht falsch im Zusammenhang mit der Kunst von Dóra Maurer. Leonardo schreibt in seinen philosophischen Tagebüchern „. . . und deshalb, oh Lernende, lernt die mathematischen Wissenschaften und baut nicht auf ohne Grundlage" (AN C I. 7. r.). „Bevor du diesen Fall zu einer allgemeinen Regel machst, erprobe zwei oder dreimal, indem du beobachtest, ob die Versuche die selben Wirkungen hervorbringen" (A. 47 r.). „Es darf nicht getadelt werden, wenn man inmitten der Darlegung eines wissenschaftlichen Verfahrens irgendeine allgemeine Regel einfügt, die aus der vorherigen Schlussfolgerung entstanden ist" (Ar. 32 v.). „Die Wissenschaft ist der Kapitän und die Praxis, das sind die Soldaten" (1.130 r.). „... also entsteht die materielle Bewegung aus der geistigen" (Ar. 151 r.). Leonardo wäre ad infinitum zu zitieren, um zu zeigen, wie sehr die Kunst Dóra Maurers in die des Abendlandes eingebunden ist. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass die Idee, die idea, der eigentliche Träger von Kunst ist. Sicherlich wäre Leonardo entsetzt, würde er mit der Kunst von Dóra Maurer konfrontiert werden. Die völlige Abstraktion würde er ablehnen, die Subjektivität der Äusserungen. Wir aber können heute den historischen Bogen spannen, können Verklammerungen aufweisen, wie sie das Kunstwollen über viele Jahrhunderte hin geprägt hat. So exponiert die Kunst Dóra Maurers erscheint, so sehr ist sie geprägt vom europäischer Kunstgeschichte. Diese wird weitgehend davon bestimmt, zumindest in den letzten zweihundert Jahren, dass für die Produktion von Kunst das Individuum des Künstlers verantwortlich ist, das die Freiheit hat selbst zu bestimmen, was die Struktur seines Kunstwollens charakterisiert. Wenn die Ergebnisse eines Künstlers diese Autonomie von Dóra Maurer erreichen, ist die Notwendigkeit dieses freiheitlichen Kunstwollens mehr als begründet. Dóra Maurers Kunst ist innovativ und dennoch zugleich einem uralten humanistischen Kanon verpflichtet.

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