Neue Zeitung, 1986 (30. évfolyam, 1-52. szám)

1986-12-06 / 49. szám

4 Offenbachsche Orpheum-Opern Eine ungewöhnliche Premiere fand im Fünfkirchner Nationaltheater statt. Auf dem Programm der ersten Vorstellung des Opernensembles in der neuen Saison standen zwei Kam­meropern von Offenbach — realisiert im Originalstil, wie sie sich Offen­bach um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Paris erträumt hat­te. Der Studio-Saal des National­theaters wurde also in ein Orpheum verwandelt, mit Tischchen und Stühlen um die kleine, runde Or­pheumbühne. In der Pause reichten hübsche Ballettmädchen Getränke und Gebäck mit Empfehlungen des Hauses. Das war die eine Über­raschung. Die andere war viel größer und wichtiger: die Mitglieder des Fünfkirchner Opernensembles ent­puppten sich nämlich nicht nur als hervorragende Sänger, sondern auch als kompetente Schauspieler, Tän­zer, ja sogar Akrobaten. Und vor allem, sie hatten Humor! Das erste Stück, „Die zwei Blin­den“, ist eine Opern-Farce über zwei arbeitslose Musiker, die sich als Blinde ausgeben und betteln gehen. Die dahinter verborgene Tra­gik interessierte Offenbach nicht, nur die komischen Situationen, derer es wahrhaftig genug gab. Die zwei Männer versuchen in Worten, Lie­dern und Tänzen, manchmal auch mit handfesten Drohungen ihre Mit­menschen davon zu überzeugen, daß sie wahrhaftig nichts sehen können. „Tulipatans Insel“, die zweite ko­mische Oper, hat eine bezaubernde, operettenhafte Musik. In der recht banalen Geschichte geht es wieder um Verwechslungen. Es gibt einen Jungen, der eigentlich ein Mädchen ist, und ein Mädchen, das eigentlich ein Junge ist. Sie verlieben sich, woraus sich die verschiedensten Komplikationen ergeben, doch zum Schluß stellt sich das biologische Gleichgewicht ein, und sie können endlich heiraten. Wie auch immer, die Zuschauer amüsierten sich von Anfang bis Ende köstlich, und nicht nur, weil sie einer herrlichen Opernvorstellung beiwohnen konnten, sondern weil sie echtes Theater gesehen haben. Hier sei noch erwähnt, daß das Operettenensemble des Fünfkirchner Theaters mit der Fledermaus von Strauß bereits zum dritten Mal eine recht erfolgreiche Tournee in ver­schiedenen Städten der BRD ab­solvierte. Maria Feld Foto: István Tár Die zwei Blinden Tulipatans Insel Unterwegs erlebt Es zieht... ... spüre ich auf der Rückfahrt nach Budapest im Bus. Als Reporter ge­wöhnt man sich mit der Zeit daran, in jeder Situation, auch auf der unbe­quemsten Sitzmöglichkeit, schlafen zu können. Meinetwegen können es auch plus 40 Grad sein, nur nicht kalt! Un hier zog es, und zwar sehr gemein! Ich saß am Fenster, und die eisige Kälte spürte ich zuerst am Ellenbogen. Das kann doch wohl nicht sein, dachte ich mir, daß die Fenster so undicht sind, und setzte mich auf den Nebensitz. Doch, da zog es auch von unten, und bald waren meine Füße steif vor Kälte. So leicht er­gebe ich mich meinem Schicksal aber nicht! Also fing ich gleich an, nach offenen Fenstern Ausschau zu halten. In den folgenden zwei Stunden schloß ich erst einmal alle sichtbar offenen Fenster, dann prüfte ich einzeln alle noch übrigen. Auf meiner Seite saßen nur vier Männer, ganz vorn, gleich hinter dem Fahrer. Zwei schliefen, die anderen beiden schauten ruhig vor sich hin. Auch die übrigen Fahrgäste auf der anderen Seite machten einen sehr ruhigen Eindruck. Die ganze Zeit ließ mich der Gedanke, warum wohl die anderen nicht frieren, nicht in Ruhe. Doch trotz meiner Fenster-Schließ- Aerobik zog es und zog es weiter! Warum wohl! Die Lösung des Ge­heimnisses fand ich beim Aussteigen. Da bemerkte ich zufällig, daß der Kunststoffbezug unter dem Fenster direkt vor meinem Sitz aufgerissen war und dort in der Karosserie ein kinder köpf groß es Loch gähnte! Am Rande des Lebens Der Bus hält etwa jede Stunde etwas länger an: Fahrer und Fahr­gäste können sich erfrischen, die Glie­der etwas ausstrecken, vielleicht eine Zigarette rauchen oder ,,sonstige“ Angelegenheiten erledigen. Diesmal blieb ich im Bus sitzen und schaute aus dem Fenster. Dem Busbahnhof der Stadt gegen­über befindet sich eine kleine Grünan­lage mit Sitzbänken. Auf der einen Bank saß eine Frau. Ihr Alter war kaum festzustellen, weil sie fast dop­pelt so viel wog, als es ihre Größe erlaubt hätte. Ihre Augen waren traurig, vielleicht vom ewigen, aus­sichtslosen Kampf mit dem Über­gewicht. Auf der Bank nebenan saß ein zierlicher, kleiner Mann mit Glatze und abstehenden riesengroßen Ohren. Die tiefen, dunklen Ringe unter seinen Augen, die zitternde Hand, in der er eine Zigarette hielt, überhaupt sein ganzes Aussehen verrieten, daß er Stammgast eines (oder mehrerer?) Wirtshauses sein mag. Die Frau fing an, die Ringeltauben zu füttern. Nach ein paar Minuten setzte sich der Mann zu ihr. Nun fütterten sie zu zweit die Vögel. — Einige Meter weit von ihnen beobach­tete sie ein junger, körperbehinderter Mann im Rollstuhl. Seine leeren Hosenbeine waren mit Sicherheits­nadeln an der Taille befestigt, sein buckliger Körper konnte den großen Kopf kaum halten. Plötzlich rollte er zu den beiden hinüber, streckte wortlos die Hand aus — er bat um Futter. Als sie nun schon zu dritt Körner ausstreuten, fiel mir erst auf, daß sie gar nicht die Tauben, sondern die sich vorsichtig etwas abseits haltenden Spatzen fütterten... — vizi — Neue Zeitung Ein Haus für sieben Jahrhunderte Kunst Der Museumsboom in der Bundes­republik Deutschland, der in den letzten Jahren imposante Neubauten in München, Stuttgart, Frankfurt und Düsseldorf entstehen ließ, hat jetzt seinen unumstrittenen Höhe­punkt erreicht: In Köln wurde nach einer Bauzeit von zehn Jahren und für 273 Millionen DM der größte — und teuerste — Museumsneubau der Bundesrepublik Deutschland er­öffnet. Der Baukomplex, der das Wallraf-Richartz-Museum, das Mu­seum Ludwig und außerdem noch die Kölner Philharmonie umfaßt, bildet mit dem gotischen Kölner Dom in seiner unmittelbaren Nähe ein spannungsreiches Ensemble aus hochgotischer und postmoderner Architektur. Hinter roten Ziegelsteinfassaden und unter mattgrau glänzenden Dächern aus Zinkblech und Glas kann das neue Museum auf vier Geschoßebenen, die durch ein mo­numentales Treppenhaus verbunden sind, seine einmaligen Bestände prä­sentieren. Zum einen ist dies die Sammlung des Wallraf-Richartz- Museum mit Bildern aller Kunst­­epochen zwischen 1300 und der Wende zum 20. Jahrhundert. Zum anderen handelt es sich um die pri­vaten Sammlungen und Schenkun­gen, die in städtischen Besitz über­gegangen sind, vor allem die Samm­lung Haubrich und die Sammlung Ludwig. Sie repräsentieren die klassi­sche Moderne, vom deutschen Ex­pressionismus bis hin zu den neoex­pressionistischen „neuen Wilden“. In kaum einem anderen Museum der Bundesrepublik Deutschland können die Besucher einen so voll­ständigen Überblick über sieben Jahrhunderte abendländischer Kunst gewinnen wie jetzt in Köln. In den lichtdurchfluteten, immer auch großartige Ausblicke auf Rhein­landschaft, Dom und Altstadt bie­tenden Hallen, präsentieren sich mittelalterliche Hoch- und Flügel­altäre und die Tafelmalerei der Köl­ner Schule, es folgen die niederländi­schen und flämischen Meister des 15. bis 18. Jahrhunderts, darun­ter Rembrandt, Rubens und Hals, dann die Werke der venezianischen und französischen Malerei. Mit cha­rakteristischen Beispielen ist die spanische Malerei mit Murillo, Ri­bera, Collantes und Velázquez vertre­ten. Ein Schwerpunkt der Sammlung ist die Kunst der Romantik und des Realismus im Deutschland des aus­gehenden 18. und des 19. Jahrhun­derts, übertroffen noch von den Bei­spielen der französischen Malerei des Impressionismus und vom Werk Picassos, das mit erlesenen Bildern und Skulpturen vorgestellt wird. Picasso ist es auch, der vom Wall­raf-Richartz-Museum ins Museum Ludwig überleitet, das gleich zu Beginn mit dem deutschen Expres­sionismus einen gewichtigen Akzent setzt. Den eigentlichen Reiz der Sammlung Ludwig macht freilich die Kunst nach 1945 aus: Op und Pop, Concept und Minimal, Fotorea­lismus, Land Art und Spurensiche­rung, Objektkunst, Ambiente, Per­formance, Happening und Fluxus dokumentieren fast lückenlos die Entwicklung der gegenstandsorien­tierten Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei das Hauptgewicht auf der amerikanischen Kunstszene liegt. Im Kölner Museumsneubau bilden Qualität und Quantität keine- Unterschied; geboten werden dem Kunstpublikum qualitätvolle Expo­nate, und zwar in Mengen: klassische und moderne Kunst „zum Sattse­hen.“ (DaD) NZ-Anthologie Unter der Überschrift „NZ-Anthologie“ veröffentlichen wir in zwangloser Folge deutschsprachige literarische Texte von heutigen und aktuell gebliebe­nen früheren Autoren Hans Fallada: Weihnachten der Pechvögel Ich möchte wirklich gern mal wissen, wie das bei anderen Leuten mit ihren Festtagen und besonders mit Weihnachten ist, ob da alles wirk­lich immer klappt ! Natürlich tun wir stets so, als sei auch bei uns alles in Ordnung, aber ich habe noch kein Weihnachtsfest erlebt, wo’s glatt ging bei uns. Daß eines von uns zum Fest todsterbenskrank wird, das ist noch ’ne Kleinigkeit, aber was meint ihr zu ’nem Heiligen Abend, wo ’ne halbe Stunde vor der Bescherung uns Einbrecher alle Geschenke einschließ­lich Baum und Festbraten klauten ! Das kommt natürlich alles daher, daß wir „Pech” heißen, wer Pech heißt, muß auch Pech haben, sagte Vater immer. Ich selbst heiße Peter Pech. Die Geschichte aber, wie’s Weihnachten 1945 bei uns zuging, er­zähle ich nur darum, um sie an eine Zeitung zu verkaufen. Ich sollte also einen Baum besorgen. Auf dem Pennal haben wir in unserer Klasse einen bärtigen Knaben gehabt, dessen Vetter, von dem der Vaters­bruder, also so was wie’n Stiefonkel, der ist Förster bei Falkensee in der Drehe. Mit dem Knaben bin ich schnell handelseinig geworden: Er lie­ferte mir ’ne Fichte von zwei Meter zwanzig, und ich lieferte ihm ein halbes Jahr lang alle deutschen Aufsätze im vorbildlichen Pechstil. Als Liefertermin — denn ich bin ein Pech, das heißt, ein vorsichtig-miß­trauischer Mensch — war der 1. De­zember vorgesehen. Aber bereits um den 7. herum begriff ich, daß mein Knabe hinreichend langsamen Geistes war, um mir bestenfalls zum 1. De­zember 1946 besagte Fichte zu liefern. Mußte ich also ’nen anderen Lieferan­ten finden, und allmählich, das heißt so am 8. Dezember, wurde es ja auch an der Zeit. Zu meinen Ämtern ge­hörte es auch, Bier aus unserer Eck­kneipe zu holen, wenn Pechs sich ge­rade mal Bier spendierten. Unsere Wirtin „Qualle“ (von we­gen ihrer Wabbligkeit so getauft) machte mich mit einem biederen Greis bekannt, einem Alten, Besitzer sowohl eines graugelbweißen Schnauzbartes als auch eines Dauer-Nasen-Tropfens, der immer zu drippen drohte und doch nie fiel. ,,Weeßte, junger Mann”, sprach der Greis und funkelte diamanten unter der Nase, „weeßte, ick ha’ da noch an die Stücker een Dutzend Ghristbäume stehen. Du machst Stük­­ker viere ab und schleppst se bei Mut­­tan, und daderfor sollste eenen von de viere kriejen, ohne Spesen!” „Ick wer’ meenen Bruder Paule mitnehmen”, sagte ich. „Nischt!” antwortete der weiß­gelb-graue Schnauz, „Beil jenügt. Un knöpp et dir unta’n Überzieha, sonst latschen uns jleich sechse nach, un ick bin meine Bäume los!” „Ick wer’t Beil in ’ne Aktentasche tun”, schlug ich vor. „Aber Paul könnte trajen helfen!” „Nischt!” sprach der trutzige Greis von altem Schrot und Korn. „Nur wa zwee beede. Sonst nischt. Um sechse früh uff’en Sonntag bei die Pankower Kirche!” Am Sonntag hat mich der Biedere versetzt und sich am Dienstag, als ich ihn glücklich in der Eckkneipe erwischte, mit Reißma­­tüchtich entschuldigt. Aber am Sonntag, der kam, fuhren wir wirklich mit der 49 nach Buchholz ’raus. Nasentröpfchen rauchte aus einer halblangen Porzellanpiepe, auf deren Kopf Seine Majestät der Kaiser noch in Kürassieruniform residierte, gewaltige Wolken stinkenden Eigen­baues blasend, als wir durch Buch­­holzens Kleingärten marschierten. Schließlich hielt der rüstig fürbaß Schreitende inne. Es war ein mächtig feines Grundstück mit alten Bäumen und viel Gebüsch. Ich fragte: „Und das Grundstück gehört Ihnen!! Das muß ja ein paar Hunderttausend wert sein!” „Nischt!” antwortete er wieder ein­mal. „Meenen Sohn seiner Frau. Aba ick ha’ de Verwaltung!“ Er kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel und rauchte dabei wie eine Enttrümmerungslokomotive. Er kramte ziemlich länglich. „Na — ?“ fragte ich schließlich. „Nischt!” antwortete er und gab es auf. „Ick ha’ den Schlüssel noch uff’en Tisch jepackt. Un nu doch vajessen! Hilft nischt! Müssen wa noch mal ’raus! Nächsten Freitag kann ick!“ Ich war maßlos enttäuscht. „Frei­tag is vilié zu spät! Können wa nich jleich heut noch mal!” „Nischt! Vaabredung!“ „Aber ich muß endlich einen Baum kriegen! Ich habe mich fest auf Sie verlassen!“ (Vor Verzweiflung sprach ich richtig deutsch!) „Un ick valaß dir nich! Pankower Kirche, Freitag, sechse!” „Das ist zu spät!“ rief ich wieder. Ich dachte an die Zwillinge Petta 49/1986

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