Neues Pester Journal, November 1877 (Jahrgang 6, nr. 303-332)

1877-11-22 / nr. 324

Mucmeetix Ganz Lfl—1,4,balbjsfl·«7 Daß „Neu­­viertelj, fl. 3.00, monatlich 1. 1.20, täglich, e Pelter Journal“ erscheint auch an M­ontagen. Redaktion und Administration: Leopoldft. Kirchenplat Nr. 2. Einzelne Nummern 4 Inserate nach aufliegendem Tarif, England und die Orientfrage. Budapest, 21. November. Fundgebungen zum guten Theile nur Demonstra­­tionen im gegentheiligen Sinne paralysirt werden. Was aber die­­­riegerische, antirussische Gesinnung Kord Beaconsfield’s betrifft, so hat er daraus zwar niemals besonderes Hehl gemacht ; dennoch verrieth seine lechte Nede auf dem Lord Mayor-Bannet einen bedeutsamen Friedensoptimismus und eine Sanft­heit gegen den Grafen, welche bei Mr. Disraeli von ehedem sehr­ überraschen mll. Der Schlüssel hiezu liegt eben in dem „Öffentlichen Geheimmnisse”, daß im dermaligen britischen Kabinett die „Zwei-Seelen­­theorie” ihre Verkörperung gefunden hat. Eine rufjo: und eine turfophile Strömung hält sich noch­ immer gegenseitig in Schach und lähmt alle energis­schen Entschließungen. Darin it man allerdings einig, daß Englands Interessen nicht gefährdet wer­­den dürfen ; allein Hinsichtlich der Grenze dieser Interessensphäre gehen die Anschauungen ziemlich angeinander. Al ein Kompromiß z­wischen der Richtung Beaconsfield'3 und jener Salisbury’3 kann man die oberwähnte Mai­ Depesche Lord Derby’3 betrachten. In dieser Depesche machte der englische Minister des Auswärtigen dem Grafen den „Standpunkt Eng­­lands“ rat und bezeichnete im Einzelnen jene Etap­­pen, wo­ die etwaige rufische EroberungSpolitis den Branten des britischen Leoparden begegnen würde. Wo aber Liegen diese Gruppen?. 63 sind die Be­drohung Ägyptens oder des Suezkanals und die Reicknahme Konsantinopels. Sewegt js Rußlands Eroberungsheer schon um­­ Diese Bunfte?. Hat es überhaupt die Tendenz, diese englischen „noli me tangere“ zu bedrohen? Von Konstantinopel steht es freilich nicht so gewiß, in Bezug auf Äalipten und den Suezlanal fan man es aber den russischen Betheuerungen glauben, hak Rußland hierauf seine Absicht Habe. Mit Bezug auf Stanbul hat aber Lord Derby selbst die „Beftsnahme”­ betont, also mwäre­ eine Eroberung und­ vorübergehende­­ Offupas­tion der Stadt am „Goldenen Horn“ fü­ England wohl eine bedenkliche Sache, aber nem sein „Sriegefall“. ie man sieht, Hat Die britische Klugheit das Biel einer notwendigen effektiven Eingreifung in die orientalischen Wirren ziemlich weit gefteht und man müßte in St. Petersburg mit völiger Blindheit ge­schlagen sein, wollte man in übermüthiger Weise diese fern gelegenen Tangirungdpunkte englischer Ssnteressen verlegen.­­63 wurde auch von Seite Ruß­ zur Abänderung der eingeschlagenen politischen Nich­­­­landd wiederholt erklärt, daß es die Wintsche Eng- tung nicht aus, und zwar um so tveriger, als diese lands veipertiren werde. Unter­ diesen „Wünschen“ Die jüngsten Ereignisse auf dem asiatischen Sriegsihaunlage drängten bei einem­ Theile der englischen Breite abermals die Besorgniß in den Vordergrund. Nußland könnte bei weiterem Bors­chreiten in Asien die Interessensphäre Großbritan­­nienő tangiren. Man weist auf die russische Expan­­sionsluft im Innern Dieses Kontinentes Hin, erwähnt der­ Beziehungen de Czarenreiches zu Bersien, mit dem es­ angeblich eine Allianz geschlosfen haben soll; ‚nit minder. bedenklich findet­ man das­­ russische Streben nach dem Euphrat und dem persischen Meer: bujen und schiebt deimselben auchh Die unerqeb­lichen Hässleien zwischen England und Afghanistan in die Cihuhe. John Bull weiß, daß am Ganges und Indus seine Achilleöferfe Liegt und jede­ entfernte Möglichkeit, Daß diese verk­undbare Stelle Der ersten Geemacht der Erde bedroht sein könnte, ruft im Inselreiche eine gewaltige Au­fregung hervor. Died it auch heute, nach der Eroberung von Kard der Sal. Während einige englische Journale dieses Ereigniß zum Anlaß nehmen, das Kabinet von St. James zu einer Mediation aufzumuntern, gehen andere Blätter Londons oc weiter und plaidiren für eine direkte bewaffn­ete Einmischung Englands, wobei­ sie zu­gleich Lord Derby erinnern, daß die in seiner Mai-Depesche gekennzeichnete Situation nie treten. Die britische Regierung somit zum Ergreifen energischer Maßregeln auch moralisch verpflichtet sei. Zugleich meldet man, daß demnacht in England allgemeine Meetings zu Gunsten einer­­­ englischen Aktionspolitik inszenirt werden sollen; ebenso ver­­lauten verschiedene Nachrichten über fortgelegte Nützungen Englands und betont, mal die antirus­­sische Gesinnung des Bremser-Mi­ntfterd Lord Bea­consfield, um­ ein bevorstehendes Heraustreten des Inselreiches aus seiner „strikten Neutralität” plau­­sibel zu machen. Brüft man jedoch die Haltung Englands­ nä­­her und unterwirft man die obigen Symptome einer strengen­ Kritis, 10 wird es bald klar, daß Diejeni­­gen in arger Täuschung leben, welche an eine nahe bevorstehende f­riegerische Aktion Großbritanniens in der Dorientrage glauben. Bir untershäten Leis neswegs die Macht und den Einfluß der englischen Breife und der auf Den Meetings geäußerten öffent­­lichen Rollemeinung ; allein diese Momente reichen und Vorbehalten findet sich aber Die Linie Nars-Grz­zerum nit, und somit sind wir der Ansicht, daß deren Begehung durch die zufitischen Heere das bri­­tische Stabinet aus seiner Neutralität nicht aufrü­ttelte werde. Versichert man doch von’St. Vetersburg, England würde selbst gegen eine russische Belebung von ganz Armenien nichts einwenden. Obgleich wir dieser Versicherung seinen Glauben schenken, so fin­­den wir andererseits in der gesammten politischen Situation der Gegenwart sein solches Moment, weil es und die bevorstehende „Aktion Englands” als wahrscheinlich darstellen wü­rde. Das angeblich Weh fende „Meibtranen“ der britischen Negierung gegen Deutschland, weil dieses sich Rußland nähere, mücte jedenfalls sehr alten Datums sein, weil ja diese Ann­­äherung seit geraumer Zeit eine offenfundige Thatz­­ache ist. . Sollte man etwa in Konstantinopel auf diese nahe,,Aktion«John Bull’s­ irgendwelche Hoffnuungs setzen,so wäre das sehr bedauerlich,denn eine Elft­­tgruschung müßte die unausbleibliche Folge sein. Wie Lord Derby erklärt hat,daß zu einer Mediation die Zeit ni­cht gekommen sei,so halten wir es für umso weniger wahrscheinlich,daß England zu G1m­­­siendechükkei gegen­ slußlan­d die Waffen­ ergreifen­ 11111·d,jaselbst zu einem energischen diplom­atischen Schritte dürfte das Kabinet von St James kaum die erforderliche Einigung und innere Kraft gewin­­nen.Gleich den übrigen europäischen­ Mächten wartet auch GscoßbritantIschI,bis die Blutströn­ge abgelaufen und die Geldquellen beider Kämpfer versiegt sein w w­erden,und erst dann wird man erfahren,«welcher Art jene Türkenfreundschaft it, Die man Gugland und insbesondere seiner feßt am Nuder befindlichen Regierung zuzuschreiben die Gewohnheit hat. Wir besorgen, John Bull wird auch dann nach dem alten Sprichworte handeln: „Selbsteffen mal fett." Das Strafgefeßbuch. Budapest, 21. November. Genau drei Jahre sind verfrohen, seitdem der erste Entwurf des Strafgesebbuches in die Oef­­fentlichkeit gelangte; mehr als zwei Jahre sind das Dingegangen, seit der zweite — allerdings nicht in vielen und nicht in wesentlichen Punkten modifizirte­n Entwurf zu Beginn der gegenwärtigen Legio=­laturperiode auf den Til­ des Abgeordnetenhauses niedergelegt worden. Seit einem halben Jahre sind die­ manchmal über Gebühr verzögerten Barbewar­tungen zu Ende geführt und nun erst nach mannig­ fachen Zaubern geht das Abgeordnetenhaus an die Sie zu vier Seiten Beilage. Der Roman des Schnapses. Original- Feuilleton beg „Neuen Vetter Journal”.) Paris, 18. November, II, Der Miloholismus in Grantreich, Zola entrollt vor unseren Augen ein furctbares Drama, welches das Singen einer Menschenseele mit einer feindseligen finsteren Gewalt darstellt. In der Bibel kämpft Safori mit einem bösen Engel und besiegt ihn. Im „Aflom? moir" kämpft Gervaise mit dem Dämon des Schnapses und wird von ihm besiegt. Das ist die trostlose Moral, die aus dem Buche des großen Nomanciers hervorgeht. Was dieses Buch zugleich­ so Herzzerreisend und so interessant macht, das­st, daß es nicht 2­035 die Schdfale einer Familie, ja nicht einmal die Schieffale des Arbeiterstandes, sondern die Schiesale des ganzen französischen Volkes malt. In der That, die Trunksucht ist die große Nationalfrankheit rant, xeide und die wahren Freunde der französischen Nation der die Freiheit und die Zivilisation so ungeheuer viel vers­wanft, sehen mit Schreden die unheimliche Ausbreitung Dies jer Uebele mitan. Das it nun wieder einer der Punkte, über die es schwer üt, die zahllosen Leute aufzuklären, die nie einen Fug auf französischen Boden gefett haben, sich aber dennoch erlauben, über alle französischen Verhältnisse eine felsenfeste Meinung zu haben, weil sie­ die Bariser Notiz­­en in den Zeitungen mit dem größten Eifer lesen und einige französische Romane verbaut haben. Diese Leute sagen mit der größten Zuversicht: : „Die Franzosen sind das mäßigste und nüchternste Bolf von Europa und Paris ist gewiß der lebte Ort der Welt, wo man die Trunt­­­ jucht zu suchen hat.“ Das it das in Europa allgemein verbreitete Borurtheil; allein es ist das direkte Gegentheil der Wahrheit. Man sieht allerdings in London mehr Trunfen­­bolde, als in Paris, aber das hat einen eigenthümlichen Grund. Der engltige Arbeiter trinkt eine ganze Woche lang gar nicht, oder mäßig, aber am Sanftag, nachd­em er sei­­nen Wochenlohn ausgezahlt bekommen hat, wirft er sich in a wüste Orgie und läuft­ dann so lange, bis er bewußts [05 in der Gosje Liegt. In Baris betrinken sich die Leute nur sehr selten in dem Maße, daß sie den Beistand verlieren, allein sie trinken unausgerecht, sie vergiften sich allmälig, sie untergraben langsam, aber stätig ihre Gesundheit, und wenn man die Folgen dieser verhängnißvollen Gemodenheit sehen will, so darf man allerdings nicht in den Golfen fur­en, aber sie werden in den Krankenzimmmern der Bürger, und in den Betten der Armenspitäler offenbar. Daß man die Engländer gewöhnlich für stärkere Alkoholkonsumenten hält, als die Franzosen, hat noch einen anderen, überaus charakteristischen Grund. Die Engländer sprechen fort: während von ihrem Weber, suchen Heilmittel dagegen, schrei­­ben ganze Bibliotheken darüber, gründen Mäßigkeitsver­­eine u. s. w. Die Franzosen dagegen wollen nir davon wissen, daß der Alkoholism­us ihre Nationalkrankheit sei; sie verheim­lichen das Möbel vor sich selbst und vor den Frem­­den ; sie sprechen nicht davon und wollen nicht, daß man davon spreche ; sie laden die Mäßigkeitsvereine aus und spotten über die Besorgnisse einer­ Gejeßgebung, die vor einigen Jahren, erschredt durch die jähen Fortschritte des Rafters, den fruchtlosen Versuch machte, es durch gejebs­liche Verordnungen einzuschränken. „Der" Afrommoir" ist das­ allererste nennensnwerthe französische Buch, welches den Muth hat, den Finger in diese offene Wunde am blühenden Reibe Frankreichs zu legen. Und nicht nur die Engländer, sogar die Rosen und Rufen trinken weniger­ geistige Getränke, als die Franz zofen. Man lächelt ungläubig? Man schüttelt zweifelnd den Kopf? So mögen Zahlen das Wort nehmen. Der Iinspektor der Gefängnisse und Irrenanstalten Dr. Zunier hat in der vorigen Donnerstagsz­eitung der Pariser „Academie de Medecine” einige statistische Angaben über den Alkoholfonsum in Frankreichh gemacht. In der leten zehn Jahren hat durcschnittlich jeder Bewohner Frankreichs jährlich 120 Liter Wein, 3 Liter Schnaps, 22 Liter Bier und etwa 10 Liter Cider­fonsumirt. Wenn man­­ bedenkt, daß die Quantität auf je­de­m Individuum, also auch­ auf Kinder in der Wiege und auf Frauen entz fallt, so kann man sich Leicht vorstellen, daß jeder erwach­­sene männliche Franzose durchschnittlich das Doppelte dieser Spirituosenmenge trifft. Dr. Lunier konstatirt in seiner Mittheilung auch, daß der Alkoholkonsum sich seit fünfzig Jahren verdoppelt hat, während die Bevölkerung kaum um 21, Millionen, von 32%, auf 35 Millionen, anges­tac­en it. Unglücklicherweise betrifft die Zunahme noch ganz besonders den Schnaps, von dem 1839 nur 2 Liter auf den Kopf entfielen, während sein Konsum von 1866 bis 1876 3 Liter jährlich per Individuum betrug. Die Anzahl der Kneipen vermehrt sich ebenfalls fortwährend, wenn auch nicht in demselben Eoloffalen Maße wie der Alkopolfonsun. 1829 gab es in Frankreich 297,812 Gabaret3, in welchen geistige Getränke ausgeschärft wur­den. Am 1. Januar 1877 zählte man 372.951 Cabaret oder eine Kneipe für 102 Einwohner, ein Verhältniß, wie es selbst in Rußland nicht ernftirt. Noch eine Ziffer, welche auf die vorhergehenden Zahlen ein charakteristisches Licht wirft: im Jahre 1876 wurden in Frankreich 65,00 € BEN En j

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