Pester Lloyd, März 1910 (Jahrgang 57, nr. 63-76)

1910-03-16 / nr. 63

. «»"--W-u-r.·ssudng K., vierteljábrig 11 K., monatlich 4 K. das Inland: Ganzjährig 48 K., halb­­­jährig 24 K., vierteljährig 12 K., monatlich 4 K. 40 K. Mit sep Postv d des Abendblattes vierteljährig 2 K. mehr. Für Wien auch durch Herm. Goldschmidt. Für das Ausland mit direkter Kreuz­­­­bandsendung vierteljährig : Für Deutsch­land 18 K., für alle übrigen Staaten 21 K. Abonnements werden auch bei sämtlichen ausländischen Postämtern ent­­gegengenommen. Für Amerika, England, Frankreich, Spanien und Portugal besteht die Vermittlung der Postämter nicht und das Abonnement muss direkt in unserer Administration erfolgen. Vertretung für Deutschland, Frankreich, England und Italien bei der Zeitungsfirma Saarbach, News Exchange in Mainz. MORGENBLATT in 57. Jahrgang Sudapest, Mittwoch, 16. März 1910 Einzeln : Morgenblattin ag vesék vás ler, in der Provinz 14 Heller, t1 in Budapest 6 Heller, in der Provinz 8 Heller. Redaktion und Administration: V., Mária Valeria­ uteza 12. — Manuskripte werden in rückgestellt. — Unfram nicht angenommen. keinem Falle zi­tierte Briefe wi Ar. 68. un E­ Z = TE ne­x — Budapest, 15. May. Die Hristlichsoziale Partei in Oesterreich hat bereits ein neues Parteioberhaupt: ihre Vertreter im Reichsrat, in den Landtagen und im Wiener Gemeinderat haben heute in gemeinschaftlicher Situng zum neuen Parteichef den niederösterreichischen Landmarschall, den Prinzen Alois Liechtenstein, erwählt. Was die politische Vergangenheit dieser Persönlichkeit betrifft, gewiß eine vortreffliche Wahl. Dieser Prinz war eigentlich der erste Christlichsoziale in Oesterreich; er war rückschrittlicher Gesinnung, wie sein zähes Bemühen einer reaktionären Abänderung des Bolta­­ihulgewebes beweist, und­ liebäugelte fortwährend mit den unteren Bolfsschichten. Nachdem Dr. Karl Lueger alle P­arteiflubs durchtwandert hatte, da er in seinem einzigen fi, wie es sein Gelbitgefühl wollte, zur Geltung bringen konnte, fand er das Klek­fat antisemitische Urgebilde,­ dem­­ er so staunenswerte Kraft verleihen sollte, eigentlich schon bor: Prinz Mois Liechtenstein hatte es geschaffen. Arm in Arm wanderten allabendlich der Prinz und der Movo­at von einem besuchten V­orstadtwirtshaus in das andere, von einer settlichen Bruderschaftsfigung in­ die andere, um ihre­­ Grundlage zu verkünden und Anhänger zu werben. Den Demokratischen Einschlag in diese Agitation brachte Dr. L­ueger­­ mit, denn der Prinz war eigentlich von Falten, herablassenden Manieren, und tat offen das Bekenntnis, mag der Adel von Geburt aus der Lehrer und Erzieher der wüßt kaum etwas, einen, gefüllten, aber löcherigen, Sad an dem oberen Ende fest zuzuschnüren; zu­ den Löchern quillt der Inhalt demn Doc heraus. Und dieses­­ Aus­­einanderstreben hat sich sofort gezeigt, da Vorkehrungen für die Ausführung des anderen­ Teiles des Testaments getroffen werden sollten, für die Nachfolgerschaft in dem Amte des Bürgermeisters von Wien. Ungleich dem wer­benden Merander dem Großen, der auf die Frage seiner Feldherren, wer die Führerschaft ü­bernehmen soll, mit dem Worte: „der Würdigste“ antwortete, das der Deutenden Ehrfucht den gefährlichsten und weitesten Spielraum , bot, hat der sich damals dem Tode nahe fühlende Lueger jene Frage gar nicht abgesvartet, sondern selber als den Würdigsten für die Nachfolge in das " erste Kommunalamt Wiens den früheren Magistratsdirektor Dr. Weigfichner ernannt. Bekanntlich war dieser aber mittlerweile mit Zustimmung Cuegers Handelsminister geworden und erachtet sich wenigstens für den Augenblick dem Parlament, der Krone und dem K­abinett gegenüber für gebunden. Erst später wird er, wenn der Ruf Der Vertreter der Bürgerschaft an ihn ergeht, sich wieder vor­­­wiegend mit den Angelegenheiten Wiens befassen. Da wird die Entscheidung für ein neues Oberhaupt der Stadt Wien denn doch nicht so leicht zu treffen sein, wie­ sie mit der mehr dekorativen Entscheidung in Beziehung auf den Parteichef getroffen wurde. Da handelt es s­ich um die Ueberantwortung mit bloß moralischer und autoritätärer, sondern effektiver Macht, da handelt es sich eigentlich­­ um die stärkste Garantie nicht bloß für den ferneren unge­­schmälerten Einfluß, sondern auch für­ die Einheit und den Bestand der Partei. Denn mit ihrer Einheit it ihr Bestand bedroht. Wer unter den Kandidaten vermag aber, nachdem ohnehin schon die Zweiteilung von Parteiführung und Stadtleitung vorgenommen werden mußte,­­ den­­ ab­­göttlich verehrten Lueger auch nur annähernd zu err­­egen? Geite ganz individuelle Befähigung, mit. Der Wiener Bevölkerung zu verkehren, seine Energie und seine Geschm­eidigkeit, sein jedes Zielabstechen und vorsichtiges Wegabtasten? Und wer wird es wagen,­ wenn es Darauf ankommt,­­so, ganz und gar nicht der Sklave seiner Bi­fiderungen zu..sein, wie Dr. Karl Lueger baz: in­ seiner politischen Errtivielung häufig genug gefragt hat? Es sind vollgültigen Erfaß nehmen, Wenn Dr. Lueger selber ich für Dr. Weiskirchner mit aller­ Bestimmtheit entschieden hat. Einer hätte vielleicht den Mu­t; aber dieser eine be­­deutet den sicheren und raschen Zerfall der Partei. Nicht nur soweit sie eine politische Pater ist, sondern sogar auch als Kommunale. Und das it das Eigentümliche: verliert sie an ihrer Geburtsstätte, verliert sie in Wien an Boden, dann kann sie sich in den Provinzen auch nicht­ weiter halten. Die übrigen, an Zahl genug ausreichenden Kan­­didaten ängstigen jüh vor ihrer Ehe dad . in traurige, Erscheinung tretenden Unzulänglichkeit, und möchten auch nicht bloße Lüdenbüßer sein bis zu dem Augenblick, bis Luegers Erwählter in Funktion treten ‚gar­ mancherlei Kandidaten da, . rk einer wird sich, als Und aug für diesen starren und so vielfach erprobten Mann wird das Funktionieren recht jeher werden. Die Maietät, von der­ er durch die Gunst Luegers umstrahlt sein wird, kann ihn vor Vergleichen mit seinem Be­­günstiger nicht fehüsen, und die Erbschaft Luegers hätte mit einigem Erfolg doch nur Lueger selbst antreten und ausbüßen können. Zumal die politische, wie er sie im feinem Testament firiert hat. Wird schon bei der Weiter­­führung der ‚kommunalen Angelegenheiten sich mancherlei Unstimmigeit und Bielspältigkeit einstellen, weil ja Wien auch finanziell zu Atem kommen muß, und der dort Schritt sich­h nicht in früheren Maße präzipitieren läßt, um wie viel mehr in den politischen öregen, da die christlich soziale ‚Partei sich zur eigentlichen Negierungspartei auf­geschwungen hat. Mit der Position einer Regierungspartei it aber, wenigstens unter staatsrechtlichen Verhältnissen, die in der österreichisch-ungarischen Monarchie in Geltung stehen, die Hinnahme des politischen­ Luegertestaments durchaus imvereinbar. Der Parteichef, oder wenn diese Miürde später wieder mit der des ersten Bürgermeisters vereint sein wird, der Bürgermeister hat dann die Ieen und die Methode anzugeben, nach Denen man sie mit dem Testament abzufinden hat, will heißen, wie sich Die fünfzige MBolitit Der Partei auszugestalten hat. elder von den miteinander rivalisierenden Bizebüm germeistern, die alle sich nicht offen nach vorwärts wagen, von denen aber Feiner Hinter dem anderen zurückleiben will, wird­ fie der Auslegung des anderen fügen, und er wird “nicht dem inneren Drang, jedes Wort des Quegerschen Vermächtnisses­ als heilig und unantastbar zu erklären, bereitwillig in Folge geben? Die S Personenfrage zeigt lar, wie statt die innere Zerflüftung der krüftlich­­sozialen Partei in, Wien it, und Dr. Queger, persönlich vollkommen selbstlos und rein, hat bei seinen­ Anhängern das Ueberwuchern des persönlichen Moments geduldet und oft­­ geradezu gezüchtet. Er fehlt, um es jecht,zu bannen und unschädlich zu machen. Und wie soll es da,erst zu einer Reform, zu einer Umbildung des politischen ristlich­­sozialen Parteiprogramms kommen, bessen fernerer unver­kupeser Bestand nicht nur zu einer großen inneren Ber­­egenheit Oesterreichs, sondern auch zu einer­ Gefahr für Feuilleton, Die Pigeuner in Ungarn, Bon­g. 23. Brepohl, Mitglied ber Gipfy-Lore-Society Eine vor Monaten unter dem Borfile des Grafen La Mailath tagende Konferenz zur Beratung der Bigeunerfrage in Ungarn (zu Csongrád) beschlug auf Borschlag des Barons Merander Zehenkcty, eine Eingabe an die Regierung zu richten, man möchte Doch­ den Bigeunern alle Wagen und Pferde abnehmen, um sie da­­duch zum Aufgeben des Nomadenlebens zu zw­ingen. Auch sollen ihnen alle Waffen und Messer abgenommen werden, ferner solle man jedem Zigeuner an einem sicht­­baren Teile des Körpers eine Nummer­­ abstempeln, um so eine Kontrolle derselben zu ermöglichen. Diese Nachricht hat die­­ Zigeunerforscher und­ Ethno­­bogen Eueopas einigermaßen überrascht. Hatte­ doch bisher Ungarn den Ruhm, diesem Bolf, gegenüber unter allen Kulturwörtern Europas die humanste Stellung einge­­nommen zu haben. Hoffentlich lehnt auch die ungarische Negierung den sonderbaren Borschlag ab. Würde doch dessen Ausführung die Errungenschaften­­ bedeutender Eigeunerforscher, unter denen Ungarn­­ hervorragende Männer geliefert hat, in­ ihrem Wert herabmindern. Nicht dafur haben ein Erzherzog Josef, ein P­rofessor Dr. Herr­mann, ein Dr. Heinrich v. Wlisloch und ein Franz­ot mit solcher Aufopferung und Liebe sich dem Studium der Eigenart und des inneren Lebens dieses Volkes ergeben, um am Ende nichts weiter h­erverzubringen, al eine gegebliche Maßregel, die an das Mittelalter erinnert und die­ eines Kulturvolkes, wie 003 der Ungarn, unkvürdig it. Die Aufopferung jener Männer verdiente es wahr­­haftig, mehr beachtet zu werden, als es auf der Cson­­über Konferenz geschehen it. Dort scheint man nur: die Schattenfeiten und Die Ddhsmoralische Duafistration Nachdem der Reichsabschied des deutschen Meidhjatages von 1497­ (8­21) die ‚Zigeuner des Landes verwiesen hatte und der Reichstag von Freiburg 1498 sie für vogel­­frei erklärte,­ war es der­­ edle Graf Geo Thurzó, Bala­tin von­ Ungarn, der diesem gequälten und gejagten Bolt in Ungarn ein gastlich Asyl gab und ihnen einen Frei­­brief ausstellte. Diese Tat Thurzós wird der ungarischen Nation bei allen humandeutenden Böltern und­ Kultur­­menschen zu Dauerndem Ruhme gereichen. Während an­­dere europäische Bölter mit eiserner­ Zanst die „Zigeuner bedrückten, brandmarkten und töteten, war es Ungarn, das dank der­ weiten Einsicht seines Palatins menschlich mit ihnen verfuhr. ‚Während zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts der König Friedrich Wilhelm I. von Preußen befahl, daß die Zigeuner, welche preußische Staatsgebiete betreten und über achtzehn Jahre alt seien, ohne weiters und ohne Unterschied des Geschlechts am Gualgen auf­­geknüpft werden sollten, während die Grafschaft Reuß in einer Verordnung vom­ 13. Juli 1711 befahl, daß alle männlichen Zigeuner, einerlei, ob mit Päffen.. versehen oder nicht, ohnem weiters zu erschießen seien, wenn­ sie in reußischen Landen ergriffen würden, die Weiber derselben aber mit Nuten gepeitscht und ihnen der Galgen an die Stirne gebrannt werden sollte, waren es die ungarischen Behörden, die auf Grund des Freibriefes des Grafen Thurzó und der siebenbürgischen Fürsten sie gastlic aufnahmen. Die Stadt Brasjó 3. B. schenkte im Jahre 1416 ihnen, Federvieh, Frucht aus den Stadtkammern und zehn Denar. Franz Sit lobt diese Tat der Ungarn als eine humane und sagt, daß nur das ungarische Bolt ein menschliches Empfinden für Dieses geplagte und geliebte Bolt gehabt habe. Dem ungarischen Bolt sei es auch zu verdanken, daß Die Zigeuner sich zu fold m­usikalischer der­­ Kunstfertigkeit hätten aufichteinigen können. Man fragt sich nun billig, ob ein Vorschlag wie der der Csongráder Konferenz, welcher geeignet sehen der ungarischen Nation, und den Ruf ihrer Humtas­zität zu schädigen, einen praktischen Wert,hat. Die Ges­­chichte. Tehit, daß bei Zigeunern harte Bedrohungen­­ und Mafregeln von unmenschlicher Strenge keinen Wert hatten.) Die don­n erwähnten Verordnungen von Neuß­­ und Breuen fruchteten in diesen Ländern nichts. Je mehr man das­ Bolt drückte, je mehr es sich mehrte. Diese alte Bibelwahrheit erfüllte ss an den Zigeunern. Eine jet hundertjährige Geschichte Dieses Boltes in Europa lehrt, daß dadurch die Plage, die von diesem Wolfe ausgeht, seineswwegs aus der Welt geschafft wurde. Der bedeutende fürstlich reußische Kriminalrat Dr. Ruhard Liebich?) sagt über die Behandlung der Zigeuner: „Man muß sich billig wundern, daß die Zigeuner bei so hartherziger und graus­­amer Behandlung nicht noch weit bösartiger­ und feind« sicher gesinnt gegen Menschen anderer Art geworden sind, als sie jeßt wirklich erscheinen. Ueberhaupt hat die s chriftliche Zivilisation im Grunde noch sehr­­ wenig oder was das­selbe ist, noch nicht das Nechte getan und tut auch heutigen Tages noch sehr wenig, um das arme Belt der Zigeuner zu sich zu erheben.“ Liebich hat recht. Die zivilisierten Völker haben es an der richtigen christlichen Humanität diejem­ Worfe gegenüber fehlen lassen, in" der Meinung, daß dasselbe einen­ höheren Einfluß unzugänglich sei. Aber schon Der edle Forscher Dr. Graffunder kam zu der Ansicht, daß auch dieses Bolt höheren Einflüssen zugängl­­ich sei.?) Diese Ansicht wird von vielen Zigeunerforscherm geteilt. Sie war es, die zuerst in England und in Nord­­amerika der Auffassung Bahn tlag, daß eine Erforschung dieses Volkes notwendig sei, um dasselbe missionieren und s­chriftlich erziehen zu können. Das­ hat zu einer großen englischen Zigeunerliteratur geführt. Zu Anfang des XIX. Jahrhunderts war es George Borrow, der ihren 1­. Siehe 3. W.: Brepohl: „Die Zigeuner nach Geschichte, Reli­gion und Sitte“. Göttingen, 1909. Vandenhoed u. Rupprecht. 2) Ziebich: „Die Zigeuner“. Leipzig, 1863. 5) Graffunder: „Ueber die Sprache der Zigeuner‘, Erfurt, 1835; s _ __ N SET ELTELNN A er

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