Gutenberg, 1928 (Jahrgang 10, nr. 1-52)

1928-01-06 / nr. 1

Nummer 1. G­U­T­E­N­B­E­R­G / X. Jahrgang. die Arbeiter selbst nahmen sich kein Beispiel an diesem Zusammengehen ihrer Gegner. Es hieße, das ganze Problem der Arbeiterbewe­gung der Tschechoslowakei aufrollen, wollten wir hier darüber auch nur kurz sprechen oder auch nur die Gründe andeuten, die die Eini­gung verhinderten. So ist es denn höchst er­freulich, daß sich die deutsche, die tschechische und die übrigen sozialdemokratischen Par­teien in der Tschechoslowakei endlich ge­funden haben, um auf dem im Jänner dieses Jahres stattfindenden P­r­o­le­t­a­r­i­e­r­k­o­n­­g­r­e­ß dieser Parteien die Richtlinien zu einem gemeinsamen Vorgehen festzulegen. Neun Jahre mußten verstreichen, ehe es zu diesem Beschlüsse kam. Aber zu einer guten Tat ist es nie zu spät. Und die Arbeiterschaft knüpft an diesen Kongreß ihre ganze Hoffnung, daß er bringt, was schon Karl Marx als un­umstößliches Dogma auf­stellte: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« Nur durch die Einheit — politisch und gewerkschaftlich — kann der Arbeiterschaft der Tschechoslowakei geholfen werden, nur auf der Grundlage einer klassenbewußten politischen Partei, die Hand in Hand mit einer geeinten gewerkschaftlichen Arbeiterorganisation geht, kann der heute herr­schenden Reaktion entgegengetreten werden. Der Internationale unserer poli­tischen und wirtschaftlichen Gegner muß die Internationale des klassenbewußten arbeitenden Volkes gegenübergestellt werden! Der werdende Sozialismus.*) »Wir müssen um das Sakrament der Erde ringen.« Ernst Toller. Der Marxismus braucht heute nicht erst ver­kündet zu werden; jeder von uns erlebt ihn so­zusagen am eigenen Leibe. Die Wirtschaftskrise ist — nicht nur in Deutschland — zu einer per­manenten (immerwährenden) Erscheinung ge­worden. Zwischen den Klippen der Inflation (Geldentwertung) und Deflation (Überwertung) sucht die herrschende Klasse das Wirtschafts­schiff des Kapitalismus hindurchzusteuern: Ar­beitslosigkeit, nationales Erwachen der Kolo­nialvölker, Wetterleuchten im Osten, unterirdi­sches Grollen des wachsenden Radikalismus im Westen, Aufbauarbeit in der Sowjetunion — wir leben mitten in der Weltrevolution. Was wir heute miterleben — und niemand kann den Tatsachen entrinnen, ob er nun poli­tisch eingestellt ist oder nicht —, das sind die furchtbaren Geburtswehen einer zusammenbre­chenden Gesellschaftsordnung, in deren Schöße die Elemente der neuen Gesellschaft keimen. Dumpf empfinden wir alle den Angstaffekt, der mit jeder Geburt verbunden ist, die Atemnot des von der Mutter sich abtrennenden Kindes. (Otto Rank, »Das Trauma der Geburt und seine Be­deutung für die Psychoanalyse«.) Die materiali­stische Geschichtsauffassung hat die Notwendig­keit des neu keimenden sozialen Lebens auf­gedeckt; sie stellt den Geburtsakt in sichere Aussicht, wie aber diese Geburt zustande kom­men wird, darüber kann sie ebenso wenig Auf­schluß geben wie die Physik über jene elektri­schen Strahlen­­ zwischen elektromagnetischen und Wärmestrahlen, die wir noch nicht ken­nen. Die Rechtsparteien wollen die Geburt ver­hindern, die Linksparteien sie beschleunigen. Auch dieses Wollen ist historisch bedingt; die Entwicklung läßt sich aber wohl hemmen, je­doch nicht aufhalten, fördern, aber nicht er­zwingen. Was wird, ist uns allen klar. W­i­e es wird, das erfüllt uns in seiner Ungewißheit mit atembeklemmender Unruhe: es ist das Trauma der Geburt einer um ein neues Leben ringenden, kommenden sozialen Ordnung. Man beklagt heute vielfach den Untergang des Parlamentarismus und meint damit nicht nur die Verrohung der parlamentarischen Sitten. Auch diese Tatsache muß marxistisch verstan­ VERBAND DER BUCHDRUCKER IN DER CECH­OSLOWAKISCHEN REPUBLIK. Kundmachung. Abschluß eines neuen Gegenseitigkeitsvertrages. Zwischen dem Verbände der Buch­drucker in der Cechoslowakischen Republik und dem Z­w­i q­z­e­k Zawodowy Drukarzy i Pokrewnych Zawodow w Polsce, Warszawa, ist mit Gültigkeit vom 1. Jänner 1928 ein Gegenseitigkeitsvertrag abgeschlossen worden, nach welchem die Unter­stützungen wie folgt geleistet werden: Die Reiseunterstützung nach Lei­stung von 6 Beiträgen, die Arbeitslosenunterstützung nach Leistung von 52 Wochenbeiträgen, wovon mindestens 26 Beiträge auf dem Gebiete jenes Verbandes zu leisten sind, welcher die Unterstützung auszahlt, die Krankenunterstützung nach Leistung von 26 Wochenbeiträgen, die Kranken Unterstützung für auf der Reise erkrankte Mit­glieder nach Leistung von 26 Wochen­beiträgen, die Invaliden Unterstützung nach Leistung von 520 Wochenbeiträgen, wo­von mindestens 52 unmittelbar vor Über­nahme auf den Invalidenstand bei jenem Verbände gezahlt werden müssen, wel­cher die Invalidenunterstützung leisten soll. Begräbniskosten­beit­rag nach Leistung von 260 Wochenbeiträgen, wo­von 52 unmittelbar vor dem Ableben , bei jenem Verbände eingezahlt sein müssen, welcher den Begräbniskosten­beitrag leisten soll. Im Falle des Ablebens eines Mitgliedes auf der Reise übernimmt der be­treffende Verband die Kosten eines ein­fachen Begräbnisses, Prag, am 28. Dezember 1927. Für den Verband der Buchdrucker in der Cechoslowakischen Republik, Wenzel Némecek, Obmann, den werden. Geboren aus dem großen Umstürze des 17. Jahrhunderts in England, hatte der Parla­mentarismus den Zweck, den auf Erhaltung des Bestehenden bedachten Geburtsadel der Land­lords durch den neuen auf Fortschritt drängen­den Geldadel der Großkaufleute und Bankherren zu bekämpfen. Das starre Gesetz sollte beweg­lich gemacht, an die Stelle der rohen Gewalt sollte die Kraft der Vernunft gesetzt werden. Die Anerkennung von Rede und Gegenrede als politisch zulässige Waffen bedeutete den Sieg der Idee (d. h. des Unternehmertums) über das Vorrecht der Geburt (d. h. der Grundrenten­inhaber). Das englische Parlament war eine An­passungsform an die geänderten Wirtschafts­­bzw. Machtverhältnisse. Heute beginnt der Parlamentarismus dem Bürgertum bereits unbequem zu werden. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht ist im Begriffe die Grundfesten des bürgerlichen Klassenstaates zu erschüttern. Die einstigen qualitativen Metho­den des parlamentarischen Kampfes versagen und das Quantitätsprinzip wird vorherrschend­ an die Stelle der überzeugen wollenden Rede tritt die parlamentarische Taktik, welche sich auf das stehende Heer der Parteiorganisation stützt. Der Schwerpunkt der Politik liegt außerhalb des Parlamentes. Der parlamentarische Clearing­verkehr (bargeldlose Geschäftsgebarung) der politischen Parteien ist keine Konversations­­(Unterhaltungs)angelegenheit; die rhetorischen (rednerischen) Glanzleistungen der einstigen Parlamente erinnern in ihrer romantischen Überschwänglichkeit an die feinziselierten Rü­stungen von Mann und Roß in der guten alten Ritterzeit, die der erste Kanonenschuß einer neuen Zeit hinweggefegt hat. Die moderne poli­tische Schützengrabentechnik arbeitet mit un­sichtbaren Generalstäben. Das Parlament ist nur mehr ein politisches Bilanzierungs (Abrech­­­nungs)institut. Noch wirken reaktionäre Kräfte in den Mas­sen selbst hemmend auf den Gang der Ent­wicklung, also im Sinne der Erhaltung der bür­gerlicher Klassenherrschaft. Aber die marxisti­sche Aufklärung schreitet unaufhaltsam vor­wärts. Die wirtschaftliche Entwicklung selbst bereitet ihr den Weg. Und die Revolutionierung der Gehirne wird zum historischen Faktor: »Auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift« (Karl Marx). Das bedrohte Bürgertum greift zum letzten Mittel, zur offenen Diktatur (Italien, Ungarn, Bulgarien, Spanien usf.) und zur Anwendung der brutalen Gewalt. (Vgl. Upton Sinclair, »100 Pro­zent«.) Die Formen sind örtlich verschieden: In Amerika gibt es in der Tammany hall eine eigene Organisation für Wahlschwindeleien und die privaten Pinkerton-Detektivbureaux werben Streikbrecher und Spitzel, während Henry Ford das neue System der »Kooperation der Klassen« (Zusammenarbeit von Arbeitgeber und -nehmer) propagiert; in Italien beseitigt man auf »gesetz­lichem« W­ege die freien Gewerkschaften und schickt die oppositionellen Führer in die Ver­bannung, während man in Ungarn ein Wahl­system konstruiert, welches den Terror in »par­lamentarischer« Form ermöglicht. Selbst das »demokratische« England beginnt den Weg der nackten Gewalt — nicht nur in der Außenpolitik — zu beschreiten. Jedes noch so verwerfliche Mittel, dessen sich das Bürgertum bedient, um seine wankende Herrschaft zu behaupten, wird geheiligt durch den Zweck, die drohende prole­tarische Revolution im Keime zu ersticken: Kon­kordat oder Galgen? das ist die entscheidende Frage. Diesem Wüten der Reaktion kann nur die Einheitsfront des Weltproleta­riats wirksam entgegentreten; sie ist auf dem Wege. Die weltwirtschaftlichen Probleme kön­nen nur weltpolitisch gelöst werden. Sind wir aber einmal so weit, die rote Fahne auf dem Erdball zu hissen, dann beginnt eine Epoche der Menschheit: Der Mensch ist kulturflügge ge­worden. Bis dahin mußte alles naturnotwendig kom­men: Die Weltgeschichte war das Weltgericht. Sobald aber der Mensch seine Geschicke in die eigene Hand nimmt und den »Sprun­g aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Frei­heit« (Engels) wagt, dann werden wir selbst über der Weltgeschichte zu Gericht sitzen und abrechnen mit allen Mächten der Vergangenheit. Die­ Sklavenketten der Menschheit rasseln zu Boden und der Mensch wird in Wahrheit Anthro­­pos, ein Aufwärtsblickender, wie ihn die Grie­chen nannten. Wir aber, proletarische Brüder, wollen diesem Menschen der künftigen klassen­losen Gesellschaft den Weg bereiten und aus der dumpfen Enge unserer Tage in ungebrochener Kampfkraft und unerschütterlicher Siegeszuver­sicht marxistische Aufklärung in die Massen tragen und sie wachrütteln mit dem Schlachtruf der »Internationale«: »Erwacht, Ver­dammte dieser Erde!« *) Wir entnehmen diesen prächtigen Aufsatz dem lesens­werten Buche »Soziologie und Sozialismus« unseres Landsmannes Gen. Prof. Th. Hartwig, Brünn, das als vierte Buchbeilage zur »Urania«, kulturpolitische Monatshefte, Jahrgang 1926/1927, Verlag Urania-Verlagsgesell­schaft in Jena, erschienen ist. Mit gutem Gewissen können wir unseren Kollegen den Bezug dieser Monatszeitschrift, zu der vierteljährlich auch noch eine vorzügliche Buchbeigabe erscheint, wärmstens empfehlen. — Die Red. Erbauliche Geschichten aus Schlesien. Unterschied der Stände. Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen Zahlen mit dem, was sie tun, Edle mit dem, was sie sind. Schiller. Zu wiederholtem Male hatte der schlesische Zentralausschuß Ursache, sich mit den Verhält­nissen unter dem Personal der christlichsozialen Druck- und Verlagsanstalt »Das Volk« in Jägern­­dorf zu befassen. In dieser Druckerei verhält es sich nach dem Sprichworte: »Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.« Und der böse Nachbar ist niemand anderer als der Herr »Kollege« Arnold Prokesch, vielen schlesischen Kol­legen sehr gut bekannt. Der Mann hat eigentlich seinen Beruf verfehlt. Statt Buchdrucker zu wer­den, hätte dieser »Auch-Kollege« eher in einen Jesuitenorden eintreten sollen, dort wäre er am richtigen Platze gewesen. So hat ihn aber der liebe Herrgott in einer schwachen Stunde den Buchdruckern auf den Hals gehängt und, so Gott es will, dürften die Kollegen in nicht allzu ferner Zeit von diesem lästigen Menschen befreit wer­den, wenn er sich nicht rechtzeitig besinnt, in den Grenzen des Anstandes zu bleiben, wie es sich für einen ordentlichen Kollegen ziemt. Für heute wollen wir die Kollegen im Lande, die Herrn Prokesch noch nicht kennen sollten, über ihn informieren. Die edle Seele kam in den Nachkriegsjahren — während des Krieges war er in Rußland Musikant — nach Jägerndorf, wo er u. a. in der Industriedruckerei und jetzt beim »Volk« konditioniert. Zu der letzten Kondi­tion verhalf er sich auf schlaue Weise. In der

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