Neuer Weg, 1970. november (22. évfolyam, 6684-6708. szám)

1970-11-21 / 6701. szám

NEUER WEG / 21. November 197Q K ann man es dem in letzter Zeit vom Temesvarer Theater nicht allzusehr verwöhnten Zuschauer verargen, wenn er mit gemischten Gefühlen dieser Premiere entgegensah ? Goldoni hat zwar seinerzeit das verstaubte italienische Steg­reiftheater umgeformt und es den Anfor­derungen des heranreifenden Bürgertums angepasst — aber immerhin war das vor 200 Jahren. Man kann heute Goldoni auch so spielen, dass er in gefährliche Nähe des Klamauk gerät. Wenn das mit viel Schwung und südländischem Stimmauf­wand gemacht wird, kann auch diese Spiel-Art von Erfolg gekrönt sein ; man denke nur an die Bukarester Aufführung der „Vier Grobiane“ („I rusteghi“, rum. „Bădăranii“), die auch in Italien Bei­fallsstürme hervorrief. Südländisches Tem­perament ist aber bei uns Teutonen recht rar gesät, man darf es also auch von den Schauspielern des Deutschen Temes­varer Theaters nur beschränkt fordern. Also könnte eine Goldoni-Aufführung leicht schief ausgehen — das befürchtete endesunterfertigter Zuschauer. Die verständliche Skepsis erwies sich aber als unnötig. Nichts ging schief. Die­ser „Diener zweier Herren“ war eine kla­re, flotte und äusserst vergnügliche Ange­legenheit. Goldonis Freude am Leben, sein Optimismus, den er später aus Ve­nedig hinüber nach Paris mitnahm, hat in diesem Stück seinen fast reinsten Nie­derschlag gefunden. Er, der in manchen seiner Stücke mit den Lastern seiner Mit­menschen recht unsanft umspringt (wie sagt doch George Călinescu : „Seit Boc­caccio hatte keiner mehr versucht, die Laster der Menschen mit Hilfe eines so kristallklaren und wohlüberlegten La­chens einer Korrektur zu unterziehen — Goldoni tat es.“), ist hier recht aufge­räumt und freute sich wohl selber an der Urwüchsigkeit seiner Typen. Am liebe­vollsten zeichnete diesmal Goldoni den Truffaldino, den Diener zweier Herren. In anderen Stücken mögen der Panta­lone oder der Dottore oder Brighella besser davongekommen sein — hier ver­schwinden sie fast neben Truffaldino. Der ist diesmal kein armer Tölpel aus Berga­mo, sondern ein rechter Schlaumeier, ein Figaro oder gar ein bisschen Eulenspie­gel. Diesen quicklebendigen, sich immer wieder aus seinem eigenen Lügengewirr herauswindenden Diener, der gleich zwei Herren an der Nase führt, spielt Rai­mund Binder so, wie ihn vielleicht nur einer an diesem Theater hätte spielen können : Abi Kitzl. Kitzl ist zur Zeit an der Theater-Hochschule, Ablösung kam also zur rechten Zeit. Binders Bewegungen sind sicher, sind gekonnt. Seine artisti­schen Einlagen verdienten eigentlich noch mehr Applaus, als ihm das Premie­renpublikum gewährte. Und ausserdem spricht Binder so, wie Kitzl wahrschein­lich erst nach der Theaterhochschule sprechen wird. Binder spricht seine Mut­tersprache in der „Sprache“ seiner Mutter (Margot Göttlinger). Wie immer man’s betrachtet — das Vergnügen an Binder war das Hauptvergnügen dieses Abends. Die anderen drei Haupttypen aus Gol­donis Lustspielen kommen, wie schon er­wähnt, im „Diener zweier Herren“ weni­ger gut weg. Der dümmlich-biedere Bür­ger Pantalone und der Dottore Lombardi gliedern sich aber — von Josef Jochum bzw. Julius Vollmer ohne Übertreibungen gespielt — gut in das Gesamtbild des Abends ein. Ihre beiden Kinder waren nach Truffaldino wohl die dankbarsten Rollen des Abends : Silvio, des Dottore Sohn, wird von Gustav Morawetz ausge­zeichnet gespielt — noch nie, so schien es uns, kam Morawetz’ Lustspielbegabung so gut zur Geltung. Da hat Spielleiter Ionescu mehr hervorgelockt als mancher vor ihm — derselbe Ionescu möge deshalb auch etwas von den „urkomischen“ Gags zurücknehmen : muss Morawetz denn un­bedingt plötzlich vollkommen x-füssig durch die Gegend hatschen und noch dazu mit busenhaltergeschmückter Degen­spitze ? Weniger wäre auch diesmal mehr. Silvios brave Clarice ist ein richtiges Gänschen — sehr nett und mit ausge­zeichneter Mimik von Ida Jarcsek ge­spielt. Die junge Absolventin der Buka­rester Theaterhochschule bringt noch ei­nen Farbtupfer in die Palette unseres Theaters — bloss mit dem Sprechen ha­­pert’s noch ein wenig. Wir hätten uns die Sätze — es waren ja nicht viele — ein wenig betonter, ein wenig nuancierter gewünscht. Es war aber trotzdem ein viel­versprechender Beginn — toi, toi, toi. Den dritten der drei Haupttypen, den „gewitzten Gastwirt Brighella“, spielte Oskar Schilz, zwar etwas mehr Gastwirt als gewitzt, aber doch sehr zum Ergöt­zen des Publikums. Er war durch ein paar Polster geschickt zum gewichtigen Gastwirt aufgerundet. Oder... ? Zu den drei am happy-gen Ende sich findenden Paaren gehören noch Beatrice, Florindo und .die Kammerzofe Smeral­­dina. Auch Helga Sandhof, Michael Haupt und Hannelore Waldeck behalten den Rhythmus der Aufführung sehr gut bei. Helga Sandhof war mit Binder und Morawetz die angenehmste Erscheinung des Abends. Franz Gröger und Hans Ja­kobi probten als Kellner mit Binder und Schilz jongleurhafte Tellerwürfe. Nach weiteren Proben dürfte die Sache gut­gehen. Vorläufig tat sie es nicht. Da es aber keine Aluminiumscherben gibt, darf weiter geprobt .werden — oder man gibt es auf. Wäre gar nicht so schlecht — denn Schwung ist ja schon sowieso im Stück. ^Diesen Schwung aber verdankt die Auf­führung Spielleiter Dan Radu Ionescu. Ionescu hat modern inszeniert, hat ein ein­faches, sehr geschmackvolles Bühnenbild geschaffen und hat uns Goldoni auf man­cherlei Weise näher gebracht. Dass sich Fechtanfänger Silvio ein allen Autofah­rern bekanntes Zeichen : „Achtung, Trot­tel !“ über den Arm zieht, wurde vom Publikum dankbar aufgenommen, und auch manche Texteinlagen (Pantalone: „Dem Schilz hab ich das Singen beige­bracht, dafür hat er einen Oskar ge­kriegt !“) würde selbst Goldoni nicht als Verunglimpfung empfunden haben. Die Reihenfolge Goldoni, Ionescu, Bin­der ist also nicht zufällig. Und noch rund ein Dutzend Schauspieler haben dazu beigetragen, dass man auch noch am nächsten Morgen lachen konnte. Da hatte Morgenstund’ Goldoni im Mund. „Sie sind seit einigen Monaten hier, Herr Cambrea“, wendet Pitina sich dem Leutnant zu, ohne noch darauf zu warten, dass Alexandrescu seinen Satz beendet, „es wäre uns angenehm gewesen, wenn Sie uns besucht hätten ... Wir haben Ih­nen durch Doktor Smultea auch eine Ein­ladung geschickt...“ Cambrea, der immer noch aufrecht vor dem Fenster steht, obwohl er zweimal aufgefordert wurde, Platz zu nehmen, ver­neigt sich, ohne ein Wort zu sagen, und erscheint einen Augenblick wie ein Po­seur, aber es ist eine Pose, die ihm an­steht, etwas, das sich mit seiner hohen Gestalt, seinen blauen frauenhaften Au­gen, seinen langen, schmalen, weissen Händen verträgt, eine so oft geübte Pose, dass sie ihm zur Natur geworden ist. „Der Genosse Leutnant“, sagt Titus, der Rechtsstudent oder frischgebackene Advokat, ein jungen Mann von kleinem Wuchs, mit grossen schwarzen Augen und lebhaften, sehr beweglichen Brauen, „ist etwas wie ein Einsiedler von besonderer Art..., er kommt sich hier verbannt vor, glaube ich, und hat recht... In Nadrag niemanden zu besuchen, heisst, sich in be­ster Gesellschaft befinden !“ und er lacht sofort über das Gesagte, leise, als mime er sein Lachen, indem er seine klugen Augen unnatürlich weit aufreisst. Es wird eine sehr gute Zuika getrun­ken, und eine der beiden Schwiegertöch­ter bringt unter der diskreten, aber stren­gen Überwachung der Frau Pitina auf einem Teller einige Brötchen. Nach einer halben Stunde erwarten alle, dass Alexandrescu sich erhebt und geht, er zögert jedoch, es zu tun, und das Ge­spräch und der ganze Ton dieser unge­wöhnlichen Begegnung nimmt eine unna­türliche Wendung, wird bald eintönig, bald verkrampft, bald ungemein frei, bei­nahe elektrisch. Niemand wagt einen län­geren Satz zu beginnen, aus Furcht, dass der Staatsanwalt sich, bevor er zu Ende ist, erheben und in seiner unbesieglichen Gleichmütigkeit zur Tür hinausgehn könnte. „Haben Sie den alten Leca verhört ?“ fragt Titus plötzlich und setzt rasch hinzu, indem er sich mit kurzer Bewegung vor­beugt, „ich kenne ihn sehr gut, in den Sommerferien, als ich noch auf dem Gym­nasium war ... “ „Nein“, unterbricht Alexandrescu ihn, als habe er nicht gehört, „ich habe ihn nicht gesehen. Genosse Cambrea hat ihn verhört und bestimmt, dass er festgenom­men werden muss..." ,Warum lügt er ?’ fragte der Leutnant sich mechanisch, ,übrigens ist das nicht wichtig, ich glaube, ich wäre genau so vorgegangen’, und hörte dann überrascht, wie der junge Advokat zum Ausdruck brachte, was er dachte, oder sich eben anschickte zu denken oder was er mög­licherweise hätte denken können, wie in einem vertrackten Spiel: „Es ist sehr gut“, sagte Titus, indem er sich mit seinem festen, lebendig klugen Blick im Kreis umsah, „wenn Sie erlau­ben — bei einem so unangenehmen Ereig­nis, einem Verbrechen, ist es gut, wenn der Verbrecher gleich ermittelt wird, selbst wenn...“, ein kurzes, gemimtes Lachen, „selbst wenn es ein falscher Ver­brecher ist ! Die öffentliche Meinung will sich in Sicherheit fühlen, und ein Ver­brecher, der frei herumläuft, besonders in einer so engen Ortschaft wie der un­seren ... “ „Wenn Sie erlauben“, unterbricht ihn der Staatsanwalt von neuem, gelassen, „wieso sind Sie denn hier ? Sie befinden sich, wurde mir gesagt, seit länger als. zwei Monaten in Nadrag, obwohl die Vor­lesungen auf der Hochschule ... !" und er lacht leise, konventionell, ohne seinen kal­ten Blick zu verbergen. „Ich bin im letzten Jahr“, sagt Titus, ohne verlegen zu werden, ja verjüngt, be­glückt über diese Herausforderung, „in der Staatsexamensperiode ... müsste eigentlich sein...“, sagte er nach kurzer Pause mit einem Stirnrunzeln, „ich bin jedoch rele­giert worden, so dass ... “ Doktor Girda, der aufrecht dasteht und eben die Gläser gefüllt hat, hustet unwill­kürlich, wird sehr rot und blickt verle­gen zu Boden, aber der Staatsanwalt fragt gleich weiter : „Relegiert ? Während der Prüfungszeit? Ist es möglich ?“ Er denkt aber sichtlich an ganz anderes. „Was hat’s denn gegeben?“ fragt der Leutnant, dem der ehemalige Student sympathisch geworden ist, und erst jetzt bemerkt alles, dass der Offizier den Mund bisher nicht aufgetan hat. „Es hat keinen Zweck, Sie mit Einzel­heiten zu langweilen !“ sagt Titus, lächelt gezwungen, und jede Bewegung, jeder Ge­sichtsausdruck verrät Intelligenz, eine lebhafte, saubere, von sich selbst be­glückte Intelligenz, „keinesfalls ist es et­was von fachlicher oder moralischer Art. Ich glaube, ich wurde beschuldigt, dass ich ein Kleinbürger oder der Sohn eines Kleinbürgers sei, ich erinnere mich nicht genau.“ „Und was werden Sie jetzt tun ?“ fragt Alexandrescu. „Ich weiss nicht“, sagt der gewesene Student einfach, „ich werde auf die Ge­rechtigkeit warten, meine persönliche Ge­rechtigkeit ... “ „Und bis dahin ?“ „Ich weiss nicht..., ich werde mir den Luxus erlauben, meine Zeit mit dem Le­sen von Spengler, Grote, Mommsen zu vertun, und zwar im besonderen Momm­sen, Geschichte der Antike, — vielleicht Jazz-Musik hören, Count Basie, Duke El­­lingtone, Dave Brubeck, Eroll Garner.. klassischen Jazz ! Ich scherze !“ — sagt er nach kurzer Pause, „ich glaube, ich werde irgendein Beamter werden, vielleicht so­gar hier im Werk... ich würde mich schlecht fühlen, ausgehalten zu werden, es muss etwas Ähnliches sein, wie das Gefühl eines Menschen, der sich nicht täglich wäscht.“ Und dann, ohne jeden Übergang, zu Alexandrescu : „Scheint Leca Ihnen schuldig ?“ Der Staatsanwalt hebt die Stirn und blickt ihn verwundert an, als habe er ver­gessen, wo er sich befindet. „Nein“, sagt er dann, ziemlich lebhaft, „ich glaube nicht, obwohl... was sagen Sie, Genosse Cambrea ?“ Der Leutnant lächelt, und in einem Au­genblick fühlen sich alle Anwesenden, selbst Frau Pitina, die ein- und ausgeht, unwiderruflich von seiner sanften, jüng­lingshaften Schönheit erobert : „Ich habe mir noch keine Meinung ge­bildet ... wir müssen den Wachtmeister Matejasch fragen, eigentlich hat er die Untersuchung geleitet, es ist seine Leiden­schaft, und er versteht sich drauf, er ge­hört einer besonderen Dienstabtedlung an... ich glaube, er ist auch jetzt im Werk „Und Leca ?“ fragt Titus. „Uber Leca kann man fast alles sagen“, fährt Cambrea fort, leicht verlegen, weil alle ihn aufmerksam ansehn, und beson­ders der Staatsanwalt, „er ist wirr­­köpfisch und gerissen zugleich, er hatte Gründe genug, es zu tun, und hat kein ernstliches Alibi, obwohl gerade dieses, also die Tatsache, dass er persönliche Gründe hatte, ihn verhindert haben könn­te zu handeln ... doch lassen wir’s, klar ist, dass das Verbrechen mit sehr ein­fachen Mitteln begangen wurde, man könnte sagen von jemandem, der aus Zu­fall die Werkstatt betreten hat, und die mächtige Gestalt des Schmieds, sein ihm zugewandter, kräftiger, unbesiegbarer, ehrgeiziger Rücken ... der Hammer da­neben ..." „Sind auf dem Hammer keine Spu­ren ?" „Nein... es sind keine“, sagt Cambrea nachdenklich, „sie sind entweder ver­wischt worden, oder der Verbrecher hat ihn mit einem Lappen umwickelt... Das beweist aber nichts...“, fährt er plötz­lich lebhaft fort, „in einem Werk tragen fast alle Arbeiter in den Taschen ihrer Kleidung baumwollene Lappen, um sich daran die Hände abzuwischen. Simonca hat eine volle Stunde allein in der Werk­statt gearbeitet, und es ist unmöglich, ge­nau festzustellen, wer im Verlauf dieser Stunde dort eingetreten ist. Leca aber ge­hört gewiss zu jenen, die hineingegangen sind, er hat es selbst zugegeben, wurde auch gesehen, und manchmal, in sehr ein­fachen Fällen, ist es gut, einfach zu den­ken ... Leca hatte alle Gründe, es zu tun, er scheint auch ein unentschlossenes We­sen, unausgeglichen, sanguinisch zu sein ... “ „Glauben Sie, dass es ein einfacher Fall ist ?“ fragt Titus. „Ja. • • sagt der Leutnant, irgendwie verwirrt, „einstweilen ist es ein einfacher Fall..." Titus lacht und sagt: „Einfach sind nur die geklärten Fälle !* „Was glauben denn Sie ?“ fragt Ale­xandrescu ihn einigermassen verächtlich, und Doktor Girda zwingt sich zu lächeln. „Was hat das für eine Bedeutulig ?“ antwortet der ehemalige Student mit un­terdrücktem Lachen und hebt seine Brauen hoch über die grossen glänzen­den Augen, „ich bin jedenfalls ein Theo­retiker, mit Büchern vollgestopft, ich habe schrecklich viele Kriminalromane gelesen, ein Kerl wie ich kompliziert alles. Selbst wenn ich mit gesundem Menschenver­stand eine Meinung äussern wollte, Würde ich von erfahrenen Fachleuten wie Sie immer verdächtigt werden und nie Glau­ben finden ... selbst wenn sich aus rei­nem Zufall meine Annahme nachher be­stätigen sollte, würde sich niemand mehr entsinnen und mir recht geben, weil alle vergessen hätten, was ich im vorhinein gesagt hatte. Obzwar im Westen Theore­tiker wie etwa die Zeitungsleute oft an der Lösung verwickelter Situationen mit­helfen ... “ „Das ist etwas gänzlich anderes“, Sagt Alexandrescu mit Achselzucken, „die Presse hat dort eine andere Struktur..., lassen wir das, sagen Sie uns Ihre Mei­(Fortsetzung auf Seite 4) Nicolae Breban Besuch bei Dr. Girda Nicolaé Breban gehört heute zu den interessantesten Romanschriftstellern der rumänischen Gegenwartsliteratur. Seine psychologisch vertiefte Prosa und seine gegenwartsbezogene Problematik machten ihn schon mit seinem Erstlingsroman „Franziska“ zu einem vielgelesenen und vieldiskutierten Autor. In kurzen Abstän­den folgten zwei weitere Romanwerke: „In Abwesenheit der Herren“ und „Kranke Tiere“, die den Ruf Brebans als hervorragender Gestalter komplizierter Situationen und als guter Erzähler sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum festigten. — Georg Scherg übersetzt im Auftrag des Kriterion Verlags die „Kranken Tiere“. Das nachstehende Fragment entnehmen wir dem Manuskript des Hermannstädter Über­setzers. Doktor Girda, ein Mann über fünfzig, gutmütig, mit blendend weissem Haar, empfängt seine Gäste, zunächst allein, dann stellt er ihnen seine Familie vor — und zwar stellt er sie Cambrea vor, denn Alexandrescu ist hier schon gewe­sen —, seinen jüngeren , Sohn, der eben die Klausenburger Rechtsfakultät absol­viert hat, dessen Frau und seine andere Schwiegertochter, die Gattin des älteren Sohnes, der seinen Militärdienst leistet, nachdem er, ebenfalls in Klausenburg, Medizin studiert hat. Seine Gattin — eine Frau von imposanter Gestalt, die im Hause schlechthin zu herrschen scheint — empfängt die Gäste mit einiger Kälte, und zwar wahrscheinlich wegen der Funktion Alexandrescus, Girda nennt ihn jedoch bei seinem Vornamen Remus, und das scheint dem Leutnant verwund derlich, um so mehr, als der Staatsan­walt erst zum zweiten oder dritten Mal ins Haus kommt, sich den anderen Fa­milienmitgliedern gegenüber jedoch mit einer Höflichkeit benimmt, die ihn nicht täuschen kann : ehrerbietig und distant, vollkommen ausgewogen. Auf einen höflichen Vorwurf des Staats­anwalts, dass der Arzt vor kurzem in der Stadt gewesen und ihn nicht aufgesucht hat , antwortet er lächelnd und seine ta­dellos erhaltenen Zähne zeigend : „Ich werde dich nie aufsuchen, erwarte das nicht..., im übrigen kennst du mich gut genug, ich sage dir nichts Neues. Hier aber bist du immer willkommen..." „Hahaha !“ lacht der Staatsanwalt und blickt Girda träge an, aber' dem Leutnant entgeht die Kühle des Ausdrucks nicht, es scheint, als lachten Mund und Lippen ei­nes fremden Gesichts. „Mein Beruf hat mir viele Menschen entfremdet“, sagt Alexandrescu, „und in einer Weise habe ich dabei gewonnen, ich meine, ich habe viel Zeit gewonnen, die ich wirklich brauche... es ist oft ein Feh­ler, darauf zu bestehen, dass man einen alten Freund behält; es gibt Menschen, die vertragen keinerlei Veränderung, selbst wenn sie sich nebenan, nicht in ihrem eigenen Dasein zuträgt...“ „Jawohl“, sagte Frau Pi tina, die Frau Girdas, „wer Erfolg hat, wechselt seine Freunde.... alte Freunde werden eine Last, die... “ Cambrea ist erstaunt, dass auf diese unverhüllte Bosheit — im übrigen zeigt die ganze Haltung von Frau Girda, dass der Besuch der beiden sie verletzt und dass sie sie nur notgedrungen empfängt, als eine Art kleiner vom Schicksal be­stimmter Strafe — das Gesicht Alexan­drescus widersprüchlich reagiert: seine Züge entspannen sich, seine Augen wer­den schmal, er lacht, lacht beinahe, und nicht in kränkender Weise, sondern mit vollkommener Höflichkeit, beinahe ge­winnend, obwohl er die Dame des Hauses unterbricht und sagt: „Ich bin kein Mann des Erfolgs, gnädige Frau !“ Pitina hebt, da sie dies ,Gnädige Frau’ hört, das so schön und ruhig aus­gesprochen wird und das sie wahrschein­lich nicht erwartet hat, leicht die Augen­brauen. „Ich bin ein Mann der Erfolge, was etwas ganz anderes ist... “ Eine äusserst vergnügliche Angelegenheit „Diener zweier Herren“ im Temesvarer Deutschen Staatstheater Beifall für Goldoni, Ionescu, Binder / Von Erich P f a f f Raimund Binder und Hannelore Waldeck während der Temesvarer Erstaufführung Foto : Walther Konschitzky Zelchnung : Gert Fabritiu« Paul Celan Atem für tausend Herbste Mein Karren knarrt nicht mehr... Der Mond taucht in die Täler, malt in den Mulden dein Bild .. Farne fächeln Stille den toten Käfern .. Die Wurzeln umarmen einander.. Rübezahl schläft. Die Nacht läutet nicht mehr.. Die Wälder winken den Wolken .. Die Zeitlose holt Atem für tausend Herbste .. Das Herz der Espe setzt aus. Seelied Liebe, über meinem Meer folgt mein Kahn den fremden Zeichen. Winde, die ich dir verwehr, lass ich in den Segeln streichen. Truhen, die ich dir verschliess, fahr ich in die See zu senken. 4 6-yU<TH hJt H /fMf JVxi ii äetH'fCoc.Lji, ■tcACa’^y /(£< ykZAJl* «^t t\1 V h t-It*yz» tCt ( e & f 4 'î'jt kc< /rVA&e <ScA( A\ kUt *V<¥ sifcÄfeti Mf kn 9 Die Handschrift eines der letzten Gedichte Einkanter : Rembrandt, auf du und du mit dem Lichtschiff, abgesonnen dem Stern als Bartlocke, schläfig, Handlinien queren die Stirn, im Wüstengeschiebe, auf den Tischfelsen schimmert dir um den rechten Mundwinkel der sechzehnte Psalm. Paul Celan wurde am 23. November 1920 in Czerno-Witz geboren. Er starb im Frühling dieses Jahres, einige Monate vor seinem 50. Geburtstag, in Paris. Innerhalb von 20 Jahren veröffentlichte er sieben Gedichtbände — von „Der Sand aus den Urnen“ aus dem Jahre 1943 bis „Fadensonnen“ 1968. Ein achter Band erschien nach seinem Tode. Celan war auch ein hervorragender Über­setzer — er hat vollendete Nachdichtungen französischer und russischer Autoren geschaffen. Sein Werk wurde mehrmals ausgezeichnet. 1960 erhielt er den Georg-Büch­­ner-Preis. Seiner Büchner-Rede zufolge hiess Dichten „unterwegs sein“, von einem „Nicht-Mehr“ zu einem „Noch-Nicht“ — „ein Prinzip Hoffnung, das sich von Buch zu Buch als unerfüllbarer erwies", schrieb ein Kritiker dazu. Bis 1947 lebte Paul Celan in Rumänien. Die hier erst­mals veröffentlichten Gedichte entstanden in dieser Zeit. Alfred Kittner hat sie uns freundlicherweise zur Verfü­gung gestellt. Ruder, die ich fahren liess, helfen mir den Kahn zu lenken. Netze, die ich lang geflickt, werf ich aus, die Nacht zu haschen — aber seltsam und geschickt löst dein Arm die starken Maschen. Legende Nach dem rostigen Rätsel der Erde Komm Bruder, forsch mir mit hellem Spatenstich. Ich fand nichts. Du findest nichts. Doch die Erde splittert dabei. Wenn es dunkelt, nehm ich dich mit mir auf meinen Hof. Du fragst, wer dort sei ? Es ist méine Schwester, es ist meine Liebste. Oft dunkelt es, wenn ich noch nicht daheim bin ... Löse ich, lösest du das rostige Rätsel der Erde mit elutigem Spatenstich ? Kultur Seite 3

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