Oedenburger Zeitung, 1879. Mai (Jahrgang 12, nr. 53-65)

1879-05-23 / nr. 62

ET] FERN REN . ,· Ri Freitag, 23. Mai 1879. nenn­te Zi. Jahrgang. Ye (vormals „Hedenburger Nachrichten.‘“) Organ für Politik, Handel, Industrie und Landwirthschaft, dann für sociale Interessen überhaupt. Motto: „Dem Fortschritt zur Ehr? — Betrüc­en zur Wehr? — Der Wahrheit eine Waffe.“ Das Blatt ersceint jeden Mittwoh, Freitag und Sonntag. From­merations-Preise: Für ktoco: Ganzjährig 9 fl., Halbjährig 4 fl. 50 kr., Vierteljährig 2 N. ’a5 ki­­­a 1 & für Auswärts: Ganzjährig 12 fl., Halbjährig 6 fl., Vier­­teljährig 3 fl. Alle fü­r das Blatt bestimmten hu, mit Ausnahme von Inseraten, Pränumerations- und Insertions­­gebühren sind an die Redaction portofrei einzusenden. Administration, Verlag, Expedition: Grabenrunde Nr. IA. Neugasse Nr. 18, im. Stock. Redaktion: Einzelne Nummern offen MED Kreuzer. BEER DER TRETEN ROREN­TEEN Inserate vermitteln: die Herren Hafenstein , Voaler, Walls­tu­hgasse 10, Wien, Budapest, U. Oppelit, IL, Stubenpartei 2, Wien, Heinrich­ Schale, I. 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Das, worüber wir heute zu schreiben gedenken ist so alt, al8 wie die Erde selbst nämlich: Der Jammer der Menschheit im Trauer­spiele des Lebens. Was gestaltet den Lebenslauf so vieler Menschen von heutzutage zu einem düsteren Bilde, dessen endl­iche Entwicklung der Selbstmord ist? Die leidige Ge­­nußsucht ist es, der Größenwahn, das oft bis zum­­ Verbrechen ausartende Berlangen fi über seinen Nebenmenscen zu erheben ; nicht etwa durch überlegene geistige Fähigkeiten, durch höhere moralische Güter, oder durch im Schweiße des Angesichtes mühsam hervorges­brachte Früchte der Arbeit; Gott bewahre, sondern durch Scheinpderdienst, durch erlogene Rangsvor­­rete. Durch erschwindeltes oder erwidertes Skapital. Das „N. P. DB," das uns die Richtung angab, in der mir Heute an leitender Stelle uns bewegen, treibt: Wer gesund organisirt ist und nicht abnormen Ereignissen zum Opfer fällt, kann mit Bestimm­theit auf eine gewisse Lebensdauer zählen, wenn — — — er jene Lebenskraft nicht leichtsinnig vergeudet, wer­n er mit derselben Weise haushaltet und in Krankheits­­fällen glückli und richtig behandelt wird. S o ist er auch bei gesund organisirten Belfern. S o lange sie die vorhandene Lebenskraft nicht in schwelgerischen entnervenden Genüsfen vorschnell abnägen, so lange sie einfach und mäßig leben, tüchtig arbeiten und mit gestählten Nerven für ihre Größe, ihren Wohlstand in den Kampf ziehen, so lange werden sie blühen und gedeihen. Wenn aber die Genusfuhhr an die Stell der Entsagung, der Müsigang an die Stelle der Arbeit tritt, wenn die Tugenden des Bürgers, die Tu­­genden der Bürgerin im Breite finken, und das Xajfter im Rurse steigt, wenn die Einfachheit der Sitten einen raffinirten Lugus, die Sparsamkeit der Verschwendung, der Familiensinn der Gefallsucht, die Liebe der Eitel­­keit weicht, dann ist ein solches Volk schwer krank, dann steht es am Rande eines Abgrunds, dann Fanıı der Zeiger der Weltgeschichte bald bei jener Stunde anges­langt sein, die ihren Untergang anzeigt ; dann fällt endlich der Vorhang und die Nation hat Thränen gefäet im T­rauerspiele des Lebens. Solche Symptome verkündeten den Niedergang Rom­s, solche Zustände veranlaßten die Theilung Polens. An allen folgen Fällen erkrankte die Gesellschaft, und in diesen unseligen, für das Dasein der Nationen so verhängnißvollen Epochen wurden jene anmidernden Komödien gespielt, welche mehr ein Trauerspiel der kranken Gesellschaft sind, die zum Komödiantenthum he­rabsrift, weil sie die Zugenden des Bürgerthums vers lernte. Das Land aber, das zur Bühne erniedrigt wird, auf der solche Komödien zur Aufführung gelangen, das Land, daß die einzelnen Tragödien, die fs täglich mehren, und eine Folge jener Luxus-Orgien sind, die ein entwerftes Geschlecht aufführt, bald zur Katastrose führen müssen, in welcher es seine nationale und staat­­liche Existenz verlieren kann. Brauchen wir noch zu sagen, daß leider Ungarn dieses Land ist, in dessem Schopfe sich diese D düsteren Erscheinungen die Vorboten eines nahenden DVerfalls zeigen? — Wohl schwerlic ! Die Tageshimnis spricht Kommentar, Selbstmord, Ehe- Scheidung, Flut, Eheb­ruch sind die Signatur des Tages, und enthüllen in schredenerregender Weise die Fortschritte eines Alles zerlegenden Marasmus, an dem unsere Gesellschaft frankt, und von dem in erster Reihe unsere Frauen ergriffen sind. Nicht in der Hütte der Armuth graffirt D diese Epidemie, im der besten Gesellschaft, im den hervor­­ragendsten Streifen wüthet die Pest ver Demoralisation, entvölkert die Salons, öffnet den Wucherern die Pfor­­ten des Hauses, kompromittirt die Ehre eines gefeierten Namens, und endet mit der Zerstörung der Familie. Es ist wahrhaft entjeglich, welche Fortschritte diese von Genußsucht, Eitelkeit, Luxus und Berjchwen­­dung heraufbeschworene Krankheit in den reifen der Gesellschaft bereits gemacht hat, und bedenkt man die Kontagiosität derselben, und das Unheil, welches daraus entstehen muß, wenn der Krankheitsstoff auch den Wolfs­­treifen eingeimpft wird, so fühlt man sich und das Land sehaudelnd am Rande eines Abgrundes. Wir sehen mit Entgegen, daß die Zeit der „NRoo­mödie“ von vorüber ist, und jene der „Tragödie be­­gonnen hat. Da gilt’s zu handeln. — Mit aller Entschieden­­heit einzugreifen. Jeder Einzelne muß im feinem Ber­­eiche mit eiserner Hand Ordnung machen. Es gilt nicht nur sich, es gilt das Land zu retten. Wir sind noch zu jung, wir sind kräftig und ge einen zu deutlichen Jeuilleton. Am Fuße des Salgens, Eine wahre Begebenheit. In der traulichen warmen Gaststube des Wirthshauses zum „goldenen Hirschen“ zu Neise in Schlesien, saßen an einem frostigen Winterabende, mehrere Bürger an dem großen gefehnigten Eichentische, in freundlicher Be­­sprechung ihrer­ häuslichen Angelegenheiten, und ließen den braunen Bierflug mit dem blinfenden Zinndedel fleigig im Kreise heumgehen. Der Wortführer unter ihnen war der Scarf­­ü­chter des Ortes, ein großer, hagerer Mann, dessen finstere Züge und die, aus langen, dunkelschattigen Brauen hervorblinzenden Augen, einen unheimlichen Eindruck auf jeden, der ihn betrachtete, machten. Er hatte eben einen Cyflus schauerlicher Geschichten von gehängten Verbregern, wandelnden Gespenstern, und dergleichen Spukgeschichten geendet, wovon, während seiner Erzählung, die bei Seite Sigende Wirthin mit ihrem Spinnrad näher geruet, die laufhenden Knechte und Mägde mit offenem Munde jedes seiner Worte, nicht ohne A­ngst und Beben, eingezogen, als der ehr­­liche Zimmermeister des Städtchens mit Kopfschütteln gegen die erzählten Zhatfadhen billige Zweifel erhob, und seinen Unglauben an derlei Ammenmärchen be­­engte­ e. Einige der im reife figenden, geistesschlichten Mitbürger stimmten seinen gerechten Einwirfen bei, und meinten, daß nur die Einbildungskraft, bei der Art Vorfällen den Menschen arg mitspiele; da sprang der in seiner Autorität angegriffene und so beleidigt fühlende Scharfrichter auf, und warf drei blanke Spe­­isthaler, die er aus der Tasche gezogen, auf den Eichen­­tif, dag sie klingend umher wollten. Nun denn, ihr ungläubigen Gesellen­ rief er zornig aus, so beweiset Euren Veuth und Eure Furctlosigkeit ; hier sind drei Thaler, sie gehören Demjenigen, der mir in dieser Stunde, aus dem verschloffenen Behältnisse am Fuße des Galgens, meine vehledernen Handschuhe holt. Hier sind zwei Schlüssel, der eine öffnet die Thüre des mauerumgebenen Galgens, der zweite schliegt das er­­wähnte Behältnis auf. Lautlose Stille, erwartungsvolles Schweigen folgte seiner Anrede; mit gesenkten Bliden und erblaffenden Mienen jagen alle da, und Seinem entschlüpfte an nur ein leises Wörtcen. Also ist Feiner unter Euch, der es wagt? rief nochmals mit spöttisch stolzem Z­one der Scharfrichter. So gehe die Wette ein, erfholl es plöglich vom Schanzkt­she her, und hervor trat eine große, stämmige schwarzäugige Dirne, welche im Hause als Kellnerin diente. Was? Marthe, Du? Du wagst es, in­­­ieser späten Stunde? riefen alle wie im Chor, von schauri­­gem Erstaunen ergriffen. Da ich nehme Euren Antrag an, Herr Scharf­richter, sagte Marthe mit ruhiger WMesene, gebt mir nur die beiden Schlüsfel, und ich werde mich soglei auf den Weg machen. Mit den Schlägeln in der Hand schritt sie in die nahe Kammer, und kam bald in einem baummwolle­­nen Node und einer kurzen, braunen, mit rothen Leder­­steifen verbrämten Pelzjade gekleidet, ein weißes Baum­­wollentuch um Kopf und Kinn gebunden, aus derselben wieder heraus. Nochmals tönte er von allen Seiten: Laß ab von diesem Wagen, man darf den lieben Herrgott nicht verfügen. Doch ohne eine Sylbe zu erwiedern, ver­­ließ die muthige Marihe die Wirthestube, und schritt ruhig durch die einsamen Gaffen zum Th­ore hinaus, E83 war eine schöne, mondhelle Winternacht, Feld und­ Flur lagen im tiefen­­ Todesschlummer unter­­ der flimmernden Silberhede des weichen Schnees. Die Bäume an dem kaum merklichen Pfade, breiteten wie in Grabesgewand gehüllte, den Grüften entstiegenen Gespenster, ihre weiten Arme aus. Westen Schrittes verfolgte Marthe furchtlos ihre Bahn, auf der weiten Alabasterfläche, und schritt munter, dem, nicht sehr ent­­legenen, Galgen zu.­­ Auf einem kleinen Hügel,beinahe eine halbe Stunde von der Stadt war dieser von Jedermann gescheute Platz,der strafenden Gerechtigkeit gewidmet. Eine mannshohe Mauer umschloß dett jetzt schneebe­­kleideten,Galgen,zwischen dessen drei Beinen gefrorene Schnecklanpen wie mit Leichentücher bedeckte Leichname, herabhingen. Jetzt stand Marthe an der kleinen Pforte;—— ein,auch dem furchtlosesten Mann,an solchen vorur­­theilsbefangenen Orten erfassendes Gefühl bemeistert es sich auch ihrer,1­nd es schwankte noch in ihrem Innern der Gedanke,ob sie nicht von dem Vorhaben abstehen sollte-Doch sie dachte an den Spott,der ihr erwartete, wenn sie ungerichteter Dinge zurückkäm­e.Schnell zog sie demnacht den Schlüssel aus dem Busen,und wollte die Pforte öffnen,welche aber,als sie die eis­­kalte Klinge erfaßte,knarrend aufflog.Das unrennbare Grauen ihrer Seele wuchs zur Gigantenhöhe,scheu be­­trat Marthe den eingeschloßenen Raum,wo an den Mauern sich dunkle Schlagschatten gespenstig lagerten. (Fortsetzung folgt.)

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