Pester Lloyd - reggeli kiadás, 1930. november (77. évfolyam, 250-274. szám)

1930-11-01 / 250. szám

Samstag, f. November 1930 <• 5 •* PESTER LLOYD «bewußt, den guten und klugen Franzosen, und so schickte er seinem Volk die Botschaft klarer Folge­rung über die Notwendigkeit einer Revision der Friedensbestimmungen. Diese sonst isolierte Stimme blieb diesmal nicht Vereinsamt. Die Gustave Hervés gesellte sich zu ihr. Sie ertönte aus dem nationalistischen Organ La Vic­­toire; um so bemerkenswerter. Hier wirkte nicht das europäische Solidaritätsgefühl ausschlaggebend, sondern die mit eiserner Logik durchdachte Situa­tion Frankreichs. Es sei von seinen einstigen Ver­bündeten verlassen, teilweise sogar befehdet, und so stehe es da „als einziger Gendarm und Voll­strecker“ des Versailler Vertrages. Diese Situation fordere gebieterisch die Annäherung zu Deutschland, also den Verzicht auf alle verletzenden Klauseln. Den konsequenten Denker führt von Versailles nach Trianon bloß ein Schritt, und Hervé hatte auch den Mut, diesen Schritt zu tun. Seiner Artikelserie folgte die Unterredung mit einem ungarischen Publizisten, dem er konkrete Vorschläge uniriß. Zugunsten Deutschlands: Verzicht auf die Volksabstimmung im Saargebiet; Gewähren des Anschlusses Österreichs; Rückgabe der Kolonien Togo und Kamerun. Zu­gunsten Ugarns; Rückgabe der Gebiete von 1.5—2 Millionen Volksgenossen; wirtschaftliche Koopera­tion Mitteleuropas. So geklärt sprach noch keiner aus dem nationalistischen Lager Frankreichs. Nebst dem Dichter und dem Publizisten er­scheint, als dritter im Bunde, ein Politiker. Aller­dings ein sozialistischradikaler, der Abgeordnete Pierre Cot. Gelegentlich eines Besuches zu Berlin sprach er, in Anwesenheit des Berliner Botschafters Frankreichs und des Pariser Botschafters Deutsch­lands, von der Verständigungsbereitschaft des fran­zösischen Volkes, das, unbeeinträchtigt vom jüngsten deutschen Wahlergebnis, auch weiterhin friedlich fühlt. Er behauptete sogar, daß alle nüchternen Elemente Frankreichs, also auch die viel weniger freizügigen, als die seinesgleichen, die Berechtigung einer Revision des Versailler Vertrages für einen spä­teren Zeitpunkt anerkennen . .. Sollte diese Gesin­nung, die heimwärts fordert und rügt, nach außen aber gewährt und lobt, auch die zur Mitte und rechts stehenden aktiven Politiker ergreifen, so wäre in Frankreich jene Wende angebrochen, die Hervé als „die Epoche des freundschaftlichen Händedrucks“ bezeichnet. Auch Deutschland ließ es nicht beim hybriden Ergebnis einer Verzweiflungswahl bewenden. Sein Nobelpreisträger, der nach dieser höchsten dichteri­schen Anerkennung bezeichnenderweise mit einer Sammlung von Reden und Aufsätzen, „Die Forde­rung des Tages“ benannt, hervortrat, sah sich auch diesmal verpflichtet, seinen biblischen Romanwurf und seine litauische Arbeitsklause verlassend, nach Genf zu eilen, um in Anwesenheit der Völkerbund­delegierten, dann nach Berlin, um angesichts des eigenen Volkes über die Einstellung zu brennenden Fragen der Politik zu sprechen. Und nichts vermag das Wagnis unverblümter Sprache im brandenden Beethoven-Saal höher zu werten, als die Skurrilität, daß die Worte dieser europäischen Größe den Pfeifen und Hupen nationalsozialistischer „Sprengkolonnen“ zu trotzen hatten. Auch dieser Warner wandte sich vorerst dem eigenen Hause zu. Nannte die letzten Reichstagswahlen eine „Dezimierung des kulturell und geistig hochstehenden deutschen Bürgertums“. Und gab die Losung aus: „Hinweg vom National­sozialismus“. Denn er bestritt, daß dieser geistige und politische Fanatispms in Deutschland, dem Mutterboden der Humanität, Wurzeln hätte. Frank­reich gegenüber wünschte er sodann die Fortsetzung der Politik Stresemanns, an deren Ende die fried­liche Revision des Versailler Vertrages und ein deutsch-französisches Bündnis steht. Und als die beste Sicherheit Frankreichs bot er „die seelische Gesundheit des deutschen Volkes“ an, die derzeit von einer politischen und wirtschaftlichen Krise gestört, aber durch Ausmerzung schlimmster Vertragspunkte heilbar ist. Somit verhalten sich die Mannsche Rede und Romain Rollands Mahnung wie zwei parallele, bloß kontrapunktisch verschieden gesetzte, Fugen. Das gleiche Grundmotiv hier wie dort: Besinnung auf Humanität, sei sie bei den Franzosen Einsicht, bei den Deutschen Selbstbeherrschung. Und der gleiche Ausklang: Versailles. Noch nie gab es ein edleres „gentleman agreement“. Taktgefühl des Herzens rührte hier an Politik und leitete sie, die an Hand von Stümpern und Grobklötzen so oft verirrte, sanft und sicher lichtwärts. Den Mahnern und Rufern der beiden großen Kontinentalmächte des Westens gesellte sich Eng­land. Und ergänzte zugleich die Vielfalt des Chors mit der Stimme eines Politikers allerersten Ranges, einst aktivsten Mitgestalters der Friedens Verträge. David Lloyd George war es, der die Kausalität der deutschen Wahlen zu entwirren unternahm. Und auch er stieß auf eine schwere Verletzung Deutsch­lands, ja, auf einen „offenkundigen Wortbruch der Alliierten“. Der Ausdruck ist zwischen Anführungs­zeichen zu setzen, denn solch harte Kritik würde von jedem Staatsbürger der nichtalliierten Länder als Beschimpfung gelten. Dies mag auch Professor Ludwig Quidde gefühlt haben, deutscher Träger des Nobelpreises für Frieden, der im Feministenverein zu Budapest, wenige Tage, bevor der Aufsatz Lloyd Georges durch die Weltpresse ging, über denselben „Wortbruch“ unvergleichlich mäßiger, im sachlich feststellenden Ton des Juristen sprach. Diese ver­letzte Bestimmung ist die durchzuführende allge­meine Abrüstung, sobald Deutschland hierin voran­gegangen sei. Auch Lloyd George schätzt die deutsche öffentliche Meinung viel zu hoch, um zu glauben, daß „die Plumpheiten des nationalsozialistischen Programms“ Anziehungskraft auf sie ausgeübt hät­ten; es konnte nur als vermeintliches Mittel ergriffen worden sein gegen den „von den Alliierten an Deutschland verübten Betrug“. Großbritanniens früherer Ministerpräsident schrieb diese Worte, die einer Geißelung gleichkommen. Dem einstigen Feinde zugekehrt, findet er aber den Ton tiefer Menschlich­keit: „Gerade heute ist es geboten, Deutschland Ver­ständnis und Nachsicht entgegenzubringen.“ Und er rühmt die Vorsicht und den Weitblick Briands, der sich in seiner Ansprache an die Frauenabordnung zu Genf als unerschütterlicher Europäer erwies: „Diese Rede mag ihm die Präsidentschaft der fran­zösischen Republik gekostet haben, aber sie hat ihm die Unsterblichkeit gewonnen.“ Der schöne Satz, vor­bestimmt, ein geflügeltes Wort zu werden, beweist daß keinerlei Antagonismus zwischen Lloyd George und dem französischen Genius besteht; daß seine Auffassung nicht etwa von einer politischen Um­gruppierung abgefärbt ward, sondern wahrer Em­pörung entsprang. Zwei dieser'Fürsprecher Deutschlands schnitten auch die gemeinsame Wunde des siechen Kontinents an: seine Schulden an Amerika. Lloyd George ver­weist auf das Angebot Englands im Jahre 1922, als es sich bereit erklärte, alle Schuld- und Reparations­forderungen fallen zu lassen, wenn Amerika und Frankreich diesem Beispiel folgten; doch Poincaré und das amerikanische Schatzamt wiesen den Vor­schlag glatt zurück. Hervé indessen wünscht ein solidarisches Verhallen Frankreichs und Deutsch­lands gegenüber Amerika. Doch fälle man nicht all­zu rasch das Urteil, als wären gerade die Vereinigten Staaten der störrische Block, woran jeder Sanie­rungswille zerschellt. Ja, auch dort gibt es verbohrte Köpfe, und noch mehr mächtige Interessengruppen, die stets gewillt sind, egoistische Politik zu treiben. Das zeigte sich auch durch das Inkrafttreten des neuen Zolltarifs, dessen für den europäischen Ex­port vernichtende Sätze auch die Reparationszahlun­gen lähmten. Doch auch in den Vereinigten Staaten ertönten Stimmen schärfster Selbstkritik, und auch dort waren es die besten Köpfe, die es wagten, den heimischen Rotten der Unduldsamkeit und des allzu guten Appetits die Stirn zu bieten. Nicholas Murray Butler, Präsident der Columbia-Universität und der Carneggie-Stiftung für Internationalen Frieden, wet­terte von der Kanzel des Reichstages zu Berlin, dann der Königlichen Gesellschaft der Künste zu London gegen den prohibitiven Zolltarif, der einem prak­tischen Importverbot gleichkommt, nichts als inter­nationale Wirrnis stiftet, bloß der Bereicherung der Nation eingedenk, ohne Rücksicht auf deren ethische Sendung. Und Owen D. Young, heute wohl der mächtigste Mitbestimmer des europäischen Schick­sals, erhob sich in der dreiundfünfzigsten General­versammlung der National Electric Light Associa­tion zu San Francisco, um den Führern der Wirt­schaft die Fragen entgegenzuschleudern: „Küm­mern wir uns um den Lebensstandard der euro­päischen Völker? Strecken wir ihnen genügende Kredite vor? Kooperieren wir mit ihnen auf dem Gebiete der Politik zu ihrer Zufriedenheit?“ Und er verurteilte aufs schärfste die Engherzigkeit in Po­litik und Wirtschaft, so auch die Dämme des Zoll­tarifs, als deren gerechte Strafe unverkäufliche Riesenüberschüsse stauen. Und der große Wirt­schaftspolitiker verhehlte diese an seinem Lande ge­übte Kritik auch vor der europäischen Öffentlich­keit nicht, indem er sie in einem Aufsatz für den Pester Lloyd zusammenfaßte, mit dem bedeutungs­vollen Ausklang: „Ich kann nicht in einer Welt le­ben, wo es große Ungleichheiten und Ungerechtig­keiten gibt, verursacht von menschenerrichteten Barrieren.“ Diese „Ungerechtigkeiten“ wirtschaft­licher Not schlagen heute turmhohe Wellen. Ihre Auswirkung ist auch an den sturmgepeitschten Wogen der deutschen Politik zu erblicken. Das Branden mag bis zum Schöpfer des Young-Plans vorgedrungen sein, denn er kündigte eine euro­päische Reise an. Sie kann und soll nichts anderem, als der wohlwollenden Revision dieses Planes gelten. Alle diese Männer, auf so verschiedenen Gebie­ten des Geistes tätig, Angehörige so verschieden be­mittelter Länder, gleich indessen in der Führerrolle ihrer Kreise, deuten auf das Dasein einer neuen politischen Schule. Worin sie sich manifestiert, mag nicht nur aus ihrem Verhalten erkannt, sondern auch an ihrem Kontrast demonstriert werden. Der Kontrast heißt, als Probe aufs Exempel, Poincaré. Kein Geringerer als Lloyd George betrachtet ihn heute als solchen: „Seine Ansichten über die Ein­haltung von Abmachungen sind stets sehr einseitig, wenn es sich um Abmachungen zwischen Deutsch­land und Frankreich handelt.“ Also ist er, nebst bedeutenden Gaben, von einer relativen geistigen Starre besessen. Dieser politische Colbertismus aber, dessen Bekenner noch in allen Landesfarben anzu­treffen sind, bewies praktisch seine völlige Unhalt­barkeit und wird in seiner akuten deutschen Er­scheinung, dem Nationalsozialismus, von den gro­ßen Ärzten der politischen Wissenschaft als ein neurotischer Fall behandelt. Inmitten solch ernster Konstellation der Welt­politik hört es sich als Erquickung, wie Führerstim­men, anstatt aufgedonnertes Echo in billiger Ver­himmelung des eigenen Volkes zu suchen, rückhalt-

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