HUNGARIAN STUDIES 17. No. 2. Nemzetközi Magyar Filológiai Társaság. Akadémiai Kiadó Budapest [2003]

Gábor Schein: Das Unverbindbare verbinden. Anmerkungen zur Prosa von Imre Kertész

262 GÁBOR SCHEIN der Wahrheit, sagte ich zu meiner Frau. [...] Auschwitz, sagte ich zu meiner Frau, erschien mir später bloß als Übertreibung jener Tugenden, zu denen ich von frühe­ster Kindheit an erzogen worden war. Ja, damals, mit meiner Kindheit, mit der Er­ziehung begann das unverzeihliche Gebrochen werden, mein nie überlebtes Über­leben, sagte ich zu meiner Frau."22 Von hier aus gesehen ist es jedoch überaus zweifelhaft, ob sich der Holocaust als das Ergebnis gefällter oder nicht gefällter Entscheidungen erzählen läßt. Die Gespenster fügen das, was geschehen ist, nicht in die Ordnung des Geistes, son­dern in die alltägliche Ordnung des Lebens. Der Zustand der Entscheidung und der Freiheit fügt sich in einen derartigen hermeneutisehen Zirkel (um entscheiden zu können, muß ich frei sein, die Freiheit bedeutet jedoch die Fällung oder Ver­meidung von Entscheidungen), in dem sich die Freiheit nicht auf etwas bezieht, bedingungslos ist, sie bleibt dennoch untrennbar von dem, was sich von ihr unter­scheidet, nämlich von einer Reihe von Voraussetzungen und von all dem, was möglich macht, daß sie in die Geschichte, in die Jurisprudenz und in die Politik eingeschrieben wird. Die Idee der den Menschen überhaupt erst entscheidungsfä­hig machenden Freiheit ist somit absolut, ihre Praxis gleichwohl nicht mehr, wir können aus dem Bereich der Lebensbedingungen nicht heraustreten, was am deut­lichsten daran sichtbar wird, daß in einem diktatorischen Regime die Wahl der Freiheit im äußersten Fall mit dem Freitod zusammenfallt. (Die Erklärung, etwas „auf Befehl getan" zu haben, läßt jede Situation als extrem erscheinen.) Der György Köves des Roman eines Schicksallosen beruft sich in seiner Ant­wort auf eine Frage des alten Steiner quasi im Gegensatz zum Essayisten Imre Kertész darauf, worin der Alltag der sogenannten namenlosen Opfer und der so­genannten namenlosen Täter wahrscheinlich gleich war: „Jeder hat seine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne in Bir­kenau, sondern schon hier zu Hause. [...] Nichts von all dem ist wahr, es gibt kein anderes Blut, es gibt nichts, bloß..., ich stockte, doch da ist mir plötzlich der Aus­druck des Journalisten eingefallen: es gibt bloß die gegebenen Umstände und in ihnen neue Gegebenheiten."23 Wenn Auschwitz in der Interpretation von Kertész keine Tragödie, sondern eben der Verlust der Möglichkeit der Tragödie ist, dann ist dem vor allem wegen der Unmöglichkeit der Entscheidung, der freiwilligen und freien Wahl des eige­nen Schicksals so, und dies trifft nicht bloß auf die Häftlinge, auf die Verschlepp­ten zu. Wie der Tod ein Massentod war, so war auch der Mord ein Massenmord, eine technisch aufs zuverlässigste ausgeführte, unpersönliche Niederträchtigkeit. Würde man György Köves fragen, so spräche er das nächste Mal von dem Glück der Lager, von der Idylle von Auschwitz. Hayden White untersucht in seinem be­rühmt gewordenen Essay, Historical Emplotment and the Problem of Truth,24 ob wir, insofern die historischen Fakten nicht gegeben sind und sich nur auf eine ein­zige Art erzählen lassen („so [...] wie sie sich in der Tat zugetragen haben"), zwi-

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