Kornis Gyula: Ungarn in der europäischen Kultur (Budapest, 1938)

Türkentums, das bereits auf einer ungleich höheren Bildungsstufe steht, und im Verlauf von Jahrhunderten bilden sich die einheitliche ungarische Nation, die mit ogurischen Wörtern er­weiterte ungarische Sprache und die ungarische Urkultur mit türkischem Einschlag. Dieses nunmehr einheitliche Reitervolk zieht unter dem Drucke der übrigen Völker nach Westen, um sich zu Ende des 9. Jh.-s ständig in dem Donaubecken, seinem heutigen Vaterlande, niederzulassen, wo es in die europäische Kulturgemeinschaft eintritt und inmitten riesiger Anstrengungen und Kämpfe sich seit über tausend Jahren erhält. Wenn wir aus der vorhin skizzierten geschichtsphilosophischen Perspektive über das Schicksal des ungarischen Volkes nachsinnen, melden sich die Fragen: Wodurch hat sich dieses asiatische Volk verdient gemacht, dass der Genius der Geschichte so vielen anderen Völkern verwandter Rasse gegenüber, die untergegangen sind, gerade dieses Volk mit den schönsten Gebieten Mitteleuropas beschenkt hat? Was hat dieser Nation ihre europäische Daseinsberechtigung verliehen? I. In erster Linie ihr entwickelter politischer Sinn. Dies hat es zugleich ermöglicht, dass diese Nation im Donaubecken eine hoch­­entwickelte Kultur schaffen und sich damit in den Dienst des Humanitätsideals der Menschheit als dem Endziel der Geschichte stellen konnte. Denn die Möglichkeit der Blüte der Elemente der Kultur: der Religion, des Rechtes, der Moral, der Wissen­schaft und der Kunst und ihre festen Rahmen sichert nur die wirksame Arbeit der politischen, das ist der staatsbildenden Kräfte. Das Rückgrat der Geschichte einer Nation ist stets die politische Geschichte; die Entwicklung der einzelnen Zweige der Kultur ist nur deren Endglied. Welches war nun die politische Sendung des Ungartums und wie hat es diese erfüllt? Auf dem Gebiete des Donauraums, der durch die Karpathen halbmondförmig begrenzt ist, konnte bis zum 10. Jh. kein einziges Volk einen Staat von Bestand gründen. Hier wohnten Kelten, Thra­zier, Skythen, Sarmathen, germanische und slawische Stämme; diese Gebiete durchstürmten Hunnen und andere Völker türkischer Rasse. Sie betraten jedoch diese Landstrasse der Völker nur, um

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