Pester Lloyd, März 1910 (Jahrgang 57, nr. 50-62)

1910-03-01 / nr. 50

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Bon Bau Balogy.") Budapest, 28. Februar, Die jeder sich unter Wahlsystem­ überlebt hat,­­ geht ent beiten aus der in die Augen springenden Deia­­denz he­rvor, in welche aus Diesem Wahlsyllen Hervor­­gegangene Parlamente in nachgerade erschredendem­ Maße verfallen sind. Wohl gibt es Dort auch rebt­wo. einzelne mächtige Imdividualitäten,­­ aber das­­ Milieu, . it welden, sie wirken, . und ‚das allgemeine Niveau sind nicht mehr Die ‚früheren. Die alten , Tendenzen des­­ ungarischen Parlaments, seine prinzipiellen Grundlagen und Losungsworte haben sie mit Der Zeit überlebt, die geschichtlichen Parteien haben sich im Laufe der politischen Kämpfe teils aufge­rieben, teils umgewandelt, oder abgebrödelt. Auch Die Produktivität und Arbeitsfähigkeit hat abgenommen. Das Parlament it kaum mehr imstande, neue Talente, frische Häfte zu fordern­ und zu erziehen. Seine Geschäftsfüh­­rung, seine Verhandlungen weisen ersschrechende Symptome auf: ein Einchlaffen des Blichtbewußtseins, " eine Liode­­rung­ der Disziplin und DBerirrungen Des Gesc­hmaches, Erscheinungen, welche an beigen Arbeitstagen, leere Häuser, bei vollen Bänfen aber nicht, selten, Skandale zur Folge hatten. ° € 3 wird denn auch von jedermann empfunden, daß Diese: » defactente Volksvertretung einer Reform , dringend bedürftig it. Was aber ihr Schicsal besiegelt hat,. das it ihre Hang zu einer, periodisch wiederkehrenden,­­ für ‚das Staatliche 'Leben gefährlichen Obstruktion,, ein ‚Hang, wel­­cher die­ Staatsnot­wendigkeit er außer. ach -Läßt,. fid . um Verbindlichkeiten, welche an einen alten Termin­­ gebunden sind, einfach nicht kümmert, ob ‚dieselben ‘nun in Das Gebiet des­­ Budgetrechtes gehören, oder den Staat gegen­über seinen Gläubigern oder fremden ‚Staaten. belasten, eine Bezirrung,­­ die, statt­­ verfassungsmäßiger : Geseße Erler-Zustände ‚Schefit. ‚Das sind­ die Prämissen, aus welchen das Staats­­oberhaupt die Konklusion abgeleitet hat, die Parfaments­­reform müsse umso mehr duchgeführt­ werden, als das Souveränitätsrecht des Herrschers bei der auf ‘dem­ Zensurs fußenden Wählerschaft jene Untersttzung, Die er zugunsten der Staatsinteressen eriwartet, nicht gefunden hat; und so­ll es einer­ von oben erfolgten Anregung zuzuschreiben, daß; die­ Wahlreform­, und zwar in ihrer radikalsten Gestalt, auf die, Tagesordnung gelangte, .·­­Zwar ist der ursächliche Zusam­­enhangs zwischen dem prinzipiell deklarierten allgemeinen«w­ahlrecht und der »­Beseitigung der parlamentarischen Destruktion nicht klar genug. Es gibt: Parlam­ente, welche auch ohne die Verallgemeinerung des Wahlrechtes arbeitsfähig und solche, Die trob bes suffrage «universel arbeitsunfähig sind. In dem Settenschluffe gibt es gewiß auch­ andere Motive, die nicht außer acht gelassen­­ werden dürfen, denn sonst könnten die an die Reform­ geknüpften Hoffnungen unter Umständen zu Enttäuschungen führen. *) Siehe Morgenblatt des „Better Lloyd“ vom 24. Februar. Andes fügen sich diese politischen Subtilitäten nicht in den Rahmen­ der vorliegenden Studie ein. Eine andere Frage, die schon in den Bereich Dieser Betrachtungen gehört, ist die, ob Ungarn auf eine Ver­­allgemeinerung des Wahlrechtes in der erforderlichen Weise eingerichtet­ ist, um diese Institution auf seinem eigenen, Rechtsgebiete, ohne Beilegung seiner Existenzinteressen verwirklichen zu können. Wie wir sehen, gibt es angesehene Staatsmänner, die diese Frage mit einem entschiedenen Nein bean­­­tworten und daduch jedwede Verantwortung für eine solche Gejegesschöpfung von sich weisen. Sie haben auch insofern echt, als diese Aufgabe bei uns nicht dieselbe ist, wie in anderen Staaten, wo der Gesetgeber seine Bereimungen auf eine homogene Be­völkerung gründet und nicht an bestimmte Negierungs­­formen gebunden­ ist. Frankreich war stets ein Staat der französischen Nation, ob nun in der Form eines Königreiches, Stalfer­­reiches oder einer Republik, und das ist es auch geblieben, gleichviel, welches Wahlsystem gerade in Kraft war. Anders verhält es­ sich mit Ungarn, das eine heterogene Be­völkerung und eine historische Berfassung hat, die ihren Inhalt aus der­ Hegemonie des Ungartums schöpft, während ihr Gleichgewicht und ihre Form in der Macht des ungarischen Königs wurzelt. Jedes Rechts- Initent, " welches " diese beiden Bedingungen " " unseres nationalen staatlichen Lebens nicht unterftübt oder gar verdunkelt, muß daher in Ungarn Bedenken erregen, weil es zu Intastrophalen­ Folgen führen kann. Zahlreiche unserer führenden politifer stehen indes auf dem­ Standpunkte, daß sie diese Bedenken nicht teilen, wenn die Reform in der Weise vert­irklicht wird, daß Die Rechtsansprüche unserer Zeit mit der V­ahrung‘ des Historischen Charakters des ungarischen Parlaments ein anstän­­diges Kompromiß Schlieken. Der König hat seine Zustimmung dazu­ gegeben, die Idee selbst hat er in seinen Totenreden schon seit vier­ Jahren stets im obigen Sinne ent­wickelt­ und er hat die kompetenten Fak­oren der ungarischen Gesettgebung damit betraut, Dieselbe zu ver­­wirklichen, wenn sie es vermögen ! * Ei­n Gewiß gehört die Aufgabe zu den jäwierigsten, und so muß man den im ihrer Lösung entstandenen Verzug billig beurteilen. Soweit es sich nur un die­ prinzipielle Seite der Frage handelt, Émift man sich darin noch relativ leicht zurechtfinden; produktive und klare­­ Geister­­ können da die Formen ihren eigenen Intentionen rasch finden und das P­apier i­st immer geduldig. Wenn dieselben aber in die Welt­ der realen Tatsachen in anschaulicher­ Weise verjest werden sollen und ihre Richtigkeit an der Hand der Karte und mit ziffermäßigen Angaben überzeugend dargetan­ werden soll, dann stehen wir vor einer ver­­widelten, Aufgabe, die ‚nit, leicht zu Lösen ist. Denn. Die demographischen Verhältnisse . Fann man nicht mit deut ‚Zirkel und die ‚realen Ziffern. der Ethnographie nicht mit dem Lineal in der Hand. dirigieren. Seit vier­ Jahren erwartet Ungarn von dem Minister der Junern eine einschlägige konfreie Arbeit, die bd­ig­lich der Lösung des Problems als Midgtjanur dienen sol. Gewiß ist nicht, der Minister juld daran, der dieser Teil seines Werkes bisher ein Amtsgeheimnis geblieben it. So viel konnten wir aus seinem Entwurf erfahren, daß er (nach belgischem Muister) das System­ der Plura­­lität als Instrument der Ueberbrüdung zwischen dem allge­­meinen Wahlrecht und dem Historischen Charakter des ungarischen Parlaments anzuwenden wünscht. Aus dem­ Gesichtspunkte des Wahlrechtes it Diese­dee im Prinzip einwandfrei, obwohl sie als Rechtsnorm auf die öffentliche Kritik einen gemischten Eindruck ges macht hat. Umso unbegreiflicher ist die angebliche Sanktion, welche diese Rechtsform belgischen Ursprungs zur Sicherung des historischen Charakters des ungarischen Parlaments bieten soll. Es ist sehr bedauerlich, daß wir hierüber nicht in einer ergänzenden Vorlage über die neue Einteilung der Wahlbezirke aufgeklärt werden, welche der objektiven Kritik, zum allgemeinen Bedauern, auch heute noch vorenthalten­ ist. In ihrer Unorientiertheit muß sich die Kritik darauf beschränten, auf die ethnographische Karte hinzuweisen, welche mit ihren Sprachgebieten am besten zeigt, daß die Pluralität — zur Wahrung des Historischen Charak­­ters unseres Parlaments — in­­ ungarischen Gegenden­ ein überflüssiges, in den von Nationalitäten bewwohnten Gegenden aber ein solches Mittel ist, welches nicht zum Biele führt. Dort erhält in allen Fällen, auch ohne­ das P­luralitätswahlrecht, der ungarische Kandidat das Man­dat, während in­ den von Nationalitäten­ bewohnten Gegenden, der ungarische Kandidat, wenn ich die Na­­tionalitäten gegen ihn wenden, to der Bluralitäts- Stimmen duchfallen muß. Zu Wer si) eingehend mit den das Wahlwelt darstellen, den Karten befaßt hat, der­­ sieht Klar, daß­ man : vor seiner, noch so scharsinnigen Zus­ammenstellung : der kleinen Wahlbezirke jene ernsten Bürgschaften, erwarten kann, welche geeignet wären, den­­ Historis­chen Charakter des ungarischen­­ Parlaments im ernsten Zeiten gegenüber anderweitigen Tendenzen des allgemeinen Wahlrechtes­­ zu­­ sichern. Die Maffe der Fremdsprachigen Tann auf ihrem­­ Sprachgebiete dur­feinerlei Virtuosität in der Zusammenstellung verschm­­ie­den, gemacht oder numerisch verringert , werden. Auch wenn die Kodifikation im Interesse der Staats«­räfon duch Erhöhung der Zahl der ungarischen Bezirke bis zur äußersten Grenze der dem Ungartum gewährbaren billigen und anständigen Konzessionen­ geht, erfährt­­ der Kreis Dieser Konzessionen durch die faktischen Verhältnisse eine Einschränkung. So zum Beispiel entfallen von 440 Mandaten im ganzen 270 auf­ ungarische Kandidaten, 170 aber auf anderssprachige, woraus folgt, dag — von Feuilleton. Wiener Musikbrief. Bor Haus Liebitgert. Na­ Uebersäwem­mungen stelt man den­ Schaden fest, nach mehrtägigen Kongressen erscheint­­ in­ der Regel ein umfangreicher Bericht. Die Haydn Feier, die im­ Mai des verflossenen Jahres vier Tage lang über Wien und a­ll Hinzog, erfreut jebt, viele Monate später, ihre Teilnehmer Dur ‚eine sorafäl­ige Feststellung aller Bor­kommmisle.. Denten Sie, ein Buch von 690 Seiten ist erschienen, das zum Teile bloß mit Nanten,­­ zum Teile mit Programmen und Ansprachen, zum­­ größten Tei­e aber mit Vorträgen angefüllt ist, die der­ dritte Kongreß den internationalen Musikgesellschaft, der mit­ der­­ Haydır­­‚Rentenarfeier­ verbunden war, veranstaltet hat. Der­­ selige alte Haydn war zeitlebens ein einfacher und genügsamer Dann. Bon Musikwifenschaft im strengen und twichtigen Stile. von heute weit entfernt... Er besaß, wie die anderen unsterblichen .Notenschreiber, Die Mufii inwendig. . Eine­n Beit, Die mehr auswendig muffiziert,­­ Tonnte. Schiverfich auf den­­ Hübfchen Einfall Tonmen, den „Papa Haydn“ — ein, gräßliches Wort, Das Jeider den langiweiligsten Leuten Gelegenheit gibt, fich nedisch und gemütvoll zu zeigen —, den. „Bapa: Haydn“ also — in Gottes­­namen. —, zwischen hier, Wänden und, nur um feiner Schöpfungen willen zu feiern. IH glaube, auch die Wie­­ner Haydn-Zentenarfeier wäre, wenigstens annähernd, in diesent. bescheidenen. Stile verlaufen,­­ hätte der­ Umstand, daß­ der­ internationale­­ Kongreß gleichzeitig fällig war, nicht heillose Komplikationen heraufbeicht waren. . Jede Kunst verweh­t, wenn sie in die Fänge der Wissenschaft gerät, aber die Wissenchaft erblüht in dem­ Armen­ der Kunst zu gesegneter Fülle. So erklärt sich das dide, hühjosgebundene und mit gründlichster Sojafalt redigierte Buch, has die Berehrung Haydniz in einen Bottich gelehrter Betrachtun­­gen­­ ertränkt. Aber selbst an den Dimensionen der Wiener­­ Zentenarfeier wäre nichts Schädliches gewesen, hätte das S­omitee eine­­ einzige lebendige, leitende Idee gehabt. Das Stomitee!­­Es war ein ungeheuerer Bolyp mit unzähligen Fangarmen, die in alle Ministerien, Nester, Gesandtschaf­­ten und Vereine Hineinreihten und von der Wiener Gesell­­schaft mitrilfen, was nur irgend­wie zu haben war. Es twimmelte von gew­esenen und aktiven Gezellenzen, und, um nur ein Beispiel zu geben, auch der außerordentliche Gesandte, und bevollmächtigte Minister von China, Herr Li-Ching-Mei, ward für Die Sache Haydns gewonnen. Der internationale Kongreß machte aus der ganzen Welt ein großes Musikvaterland. Meine Herren und Damen! Meslleurs et Mesdames! Ladies and Gentlemen! Die Höflichkeit und ihre Nebenflüsse traten aus den­ Ufern. Europa, Asien,­ Amerika ! Nur Ungarn war nicht da. Ich weiß nicht warum. Ein anatomischer Kongreß für Musik begann seine spekulative Tätigkeit. An den Gestionen wurde unermüdlich vorgetragen und debattiert. Man erfährt jecht auch, was umt­iche, die Vorträge sind in ‚Dem Ge­denkbuch fast alle­ erschienen: „Einrichtung der schiwedischen Orgeln im­ Mittelalter”, „Sesänge der Papuas“,­­ „Ben­­tatonik in den Melodien der Lappen“. . Der­ Stongreßi . hat auch sonst Ergebnisse gehabt: den­­ Entwurf eines inter­nationalen Regulativs für den­­ Orgelbau. Die Musik­­wissenschaft ist eine der jüngsten Wissenschaften,­­ aber­ sie befleißt sich schon der Allüren, einer alten, bis ins Herz­­ verm­öderten. Disziplin. Sch . denke, daß .e3 Derzeit . lebendige Themen - genug­­ gäbe, die. den . Mufifer beschäftigen dürften. Interessiert der allgemeine Niedergang der Gesangskunst die .Mufii­­gelehrten nicht? Finden sie nicht, daß die zahllosen: Ge­sangsschulen,­ die zum großen­ Zeile unter der Leitung unberufener "­ Vehrer" stehen, ein Gefech­t gegen den Unfug mit „Sesangsmethoden“ herausfordern? Die Musik i­st ein lebendiges Ding, sie hat weniger­­ als alle anderen Künste Bei einem anderen Jubiläum­ sind freilich die­ Ges­amüter der Musikstadt Wien stärker und­ unmittelbarer engagiert: Die­ große Gedenkfeier der Philharmoniker steht vor der Tür. Ein halbes Jahrhundert lang musizieren sie rehr zur ‚Ehre ihrer V­aterstadt, Hochgeehrt und berühmt bor­ der­ ganzen musikalischen Welt. » Das’ Festessen und die langen Festreden sind leider "undermeid­­et. Am beten wäre es wohl, die Philharmoniter, die an­­ zwei aufeinander folgenden Sonntagen Festkonzerte abhalten, allein zu Worte kommen zu lassen. Im ersten dieser Konzerte Huldigen­­ sie dem unsterblichen, lebten großen Meister der Musik: Johannes Brahms, int­eiwei­­ten geht ‚Brudner‘ Tedeum der Neunten Sinfonie Beethoven voran. Herr v. Weingartner ‚hat,­ so Turtze Reit­er, auch an der Seite unseres ‚idealen. Droesters steht, große, V­erdienste um das Unternehmen. Unter den Dirigenten, nimmt der Direktor der Wiener Hofoper"einen unbestrittenen Rang ein. Auch die Philharmoniker haben °

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