Transilvania, 2017 (Anul 123, nr. 1-11)

2017-02-01 / nr. 2

Als Leser ist man geneigt zu fragen: Was bewog die im Ausland lebende Autorin, ein Thema aus der Geschi­chte der Siebenbürger Sachsen zu wählen? Ist es die von Gumbrecht formulierte “neue Sehnsucht nach Substantia­­litäf bzw. ein Verlangen “Vergangenheit präsent pu machen und präsent pu halteri’?19 Im Rahmen einer Lesung aus dem Roman Zeiden im ]anuar beantwortete die Autorin, die oben formulierten Fragen nicht als solche, doch sprach sie von “historisch ak­­kurate[m] Erfinden”-6, das in meiner Sicht, als “historisches Erzählen”, “als fiktional mhrgenommene Wirklichkeit’ 21 zu deuten ist. Die poetologische Konturierung des histo­rischen Erzählens “wird durch die Frage nach dem Verhältnis von Fakt [um] und Fiktion bestimmt.”11 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass in der Postmoderne selbst die “Geschichtsschreibung” — so Hayden White, von dem diese Anregung ausgeht — “nicht weniger eine Form von Fi­ktion, als der Roman eine Form historischer Darstellung ist’.’1’’ Das angeführte Verhältnis von historischen Fakten und Fiktion hat in der Postmoderne mehrere Formen historischen Erzählens hervorgebracht, die von Ansgar Nünning24 eingehend besprochen und typologisiert wor­den sind. Nünning verwendete für “den Propess der imagi­nativen Rekonstruktion der Vergangenheit’ den Gattungsbe­griff “metakistoriographische Fiktion”, in deren Mittelpunkt die Frage nach der “Fiktionalität von Geschichte”25 steht. Der “metahistoriographischen Fiktion” werden “produktive Funktionen für die kollektive Erinnerung und die Generierung von Geschichtsbildern in der zeitgenössischen Gesellschaft526 zu­gesprochen. Daraus kann geschlossen werden, dass die Analyse eines Romans, der auf Darstellung von historis­chen Ereignissen fokalisiert ist und sich auf Fakten stüt­zt, deren poetische Funktionalisierung bzw. Fiktionalisie­­rung in Betracht ziehen muss. Denn Fakten können Elemente der Dichtung, Mittel der Darstellung sein, und hier mögen sich Literatur und Geschichtsschreibung berühren, aber Dichtung referi­ert nicht auf Fakten, transportiert nicht Fakten um der Fakten willen, sondern nutzt sie für den Aufbau einer präziesen Unpräzison, einer bestimmten Vagheit, einer polyvalenten Bedeutung, einer unantastbaren eigenen ästhetischen Wahrheit, die sich unmittelbar, in reiner Temporalität und reiner Lokalität, ohne Referenz zur empirischen Wirklichkeit und durchaus auch mit vorse­mantischen klangautonomen fiktionalisierter Rede im Text konstituiert.27 Ackrills Zeiden, im Januar verwendet Fakten, historis­che Quellen, die von der Autorin eigens in Form einer Danksagung28 angeführt werden und den “Rohstoff” zum Roman bilden. Doch werden die historischen Tat­sachen umgewandelt und verdichtet, literarisch bearbei­tet bzw. fiktionalisiert. Das bedeutet, die Geschichte wird bewusst anders erzählt, “die Romanform und die Freiheit pur Erfindung, die sie gewährt, boten [ihr] die psychische Abschir­mung, durch die es überhaupt möglich wurde, Themen in Angri­ff pu nehmen [.. .]”2'J, die sie sonst als schwer darzustellen fand. Ihre Personenkonstellation umfasst Opfer und Tä­ter, historisch belegte Gestalten - Andreas Schmidt, Cor­­neliu Zelea-Codreanu, Ion Antonescu, Victor Capesius u.a. - und eine fiktive Hauptgestalt, doch bei der Kon­struktion ihrer Gestalten geht die Autorin nicht denun­zierend vor bzw. weist sie nicht auf konkrete Identitäten im Realleben hin, sondern greift auf „entgrenzende“ Ähnlichkeiten. Ackrill nimmt sich alle Freiheiten, die es einer Autorin gestatten, den geschichtlichen Stoff zu fik­­tionalisieren und mit Hilfe von künsderischen Verfahren umzuformen bzw. Fakten und Fiktionen zu “montieren und modellieren.”’’0 Im Roman können zahlreiche textimma­nente Fiktionalisierungssignale wahrgenommen werden, die sich größtenteils mit postmodernen Elementen - wie inhaltlicher Pluralität, Multiperspektivität, Simultaneität, der Verschränkung von Vergangenheits- und Gegenwart­sebenen, expliziter Selbstreflexivität des Textes oder der Verbindung anspruchvoller und unterhaltender Elemen­te31 - decken. Als postmodern sind in Zeiden, im Januar auch mtertextuelle Referenzen32, die Sprache und die ei­genwillige Form des Romans zu deuten: die Handlung weist keine einheitliche Struktur auf, diese besteht aus Fragmenten, Momentaufnahmen und vielen Rückblen­den, die wie in einem Puzzlespiel ihren bestimmten Platz finden müssen, damit das Ganze einen Sinn bekommt. Einen unterhaltsamen Redefluss scheint die Autorin nicht anzustreben, im Gegenteil, sie zerhackt die Epi­soden, bald befindet sich der Leser am Anfang des 20. Jahrhunderts, bald im Sommer 1940 oder Winter 1941. Die Kapitel sind stark fragmentiert und tragen detailge­treue Ortsangaben, nicht bloß die Stadt, sondern auch die Straße, das Haus, die Institutionen (z.B. Leontines Haus, Zeidner Rathaus, Waldbad, Reimersapotheke) und minutengenaue Zeitangaben (z.B. “Quartier des SS-Sturm­­bahnführer Geißler in Fukarest, Sonntag, 19. Januar 1941,9.45 Uhr”>}) werden angeführt. Die Darstellung des 21. Janu­ar 1941 beispielsweise, der für die Aussage des Romans zentral ist, setzt im ersten Teil des Romans ein, endet im dritten Teil auf der letzten Seite mit der Flucht Leon­tines und umfasst dreißig Fragmente: der Beginn ist um “6.45 Uhr, am Bahnhof in Kronstadtm und das Ende “Leon­tines Haus in Zeiden, Dienstag, 21. Januar 1941, 22.59 Uhr.”K Der Wechsel von zeitlichen Ebenen ist eng mit der Dar­stellung von Raumstrukturen (Bukarest, Zeiden, Kron­stadt, Freck....) verknüpft, dabei kommt der Darstellung von Reisen und Spaziergängen “ die poetische Möglichkeit, die Dimensionen von Raum und Zeit miteinader pu vemetperizu. So z.B. unternimmt Maria Zugreisen von Bukarest über Kronstadt nach Zeiden, Leontine nach Freck und andere

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