Ungarische Rundschau für Historische und Soziale Wissenschaften 2. (1913)

1913 / 1. szám - Stefan Tisza: Auf der Schwelle der Wahlrechtsreform

2 Ungarische Rundschau. keiten, der Lehren von Vergangenheit und Gegenwart aufgebaute echte Wissenschaft und die auf der richtigeren Auffassung des menschlichen Verstandes und Herzens beruhende tiefere Welt­anschauung gegen das öde Zerstörungswerk Jener zu vertreten und zu verteidigen. Von deren Wirken droht nirgends größere Vernich­tung, als auf dem Gebiete des Wahlrechts. Und wir bleiben nur uns selbst getreu, wenn wir mit den Lehren des realen Lebens in das verworrene Dunkel ihrer Theorien hineinleuchten. Wir tun es ohne jede parteipolitische Färbung, Tendenz und Ge­bundenheit, mit der vollkommenen Freiheit der wissenschaftlichen Prüfung. Die nachfolgenden Darlegungen drücken die jeglichen Parteistandpunkts ledige, individuelle Überzeugung des Verfassers aus; er wünscht damit die richtige Beurteilung und Lösung der Frage nach bestem Können zu fördern, ohne den Details des ein­zureichenden Gesetzentwurfes und der eigenen Stellungnahme diesen gegenüber irgendwie präjudizieren zu wollen. Es versteht sich von selbst, daß keinerlei Parteidisziplin den Ver­fasser veranlassen könnte, etwas anzunehmen, was nach seiner Über­zeugung für die Nation gefahrbringend ist. Wer jedoch die Lösung der Frage ernstlich wünscht, muß sich sogar in wichtigen Details zu Kompromissen bereit halten, denn die befriedigende Erledigung des großen Problems läßt sich nicht denken ohne wechselseitige Kapazitierung und Nachgiebigkeit derjenigen, die inbetreff der Grundprinzipien übereinstimmen. Die Wissenschaft hat, wie erwähnt, hier zweifachen Aufklärungs­dienst zu tun. Sie muß die Wirkung des demokratischen Wahlrechts im Auslande aufdecken und ein möglichst genaues Bild von jenem Menschenmaterial liefern, das in unserem Vaterlande Einfluß auf die Geschicke der Nation erlangen würde, je nach dem wir uns in der Bahn des demokratischen Fortschritts vorsichtiger oder radikaler vorwärtsbewegen. Daß wir uns dem Fortschritte nicht länger verschließen dürfen, darüber herrscht sicherlich kein Meinungsunterschied im Lande. Wir haben seit dem Zustandekommen unseres gegenwärtig be­stehenden Wahlrechts grosse Wandlungen durchgemacht. Neue Kräfte sind entstanden und haben sich entwickelt. Ihr Bestreben, sich zur Geltung zu bringen, ist innerlich motiviert; es würde sich an der Nation rächen, wenn sie länger zurückgedrängt würden. Es fragt sich nur: wie weit können wir gehen? Wo ist die Grenze, die wir bei der Gewährung von Rechten nicht überschreiten dürfen, falls wir das Schicksal der Nation nicht unerprobten Händen an­vertrauen wollen?

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